10 Jahre Charta zur Betreuung Sterbender

, Stadtdekanat Münster

Hoffnung auf Heilung gab es nicht mehr. Die 25-Jährige wusste, dass sie sterben wird. Ihr ungeborenes Kind musste per Kaiserschnitt zur Welt gebracht werden. Das letzte Zuhause der jungen Frau: die Palliativstation im Universitätsklinikum Münster (UKM). „Innerhalb einer Woche haben wir hier die Hochzeit, die Taufe des Sohnes und die Krankensalbung erlebt“, erinnert sich Leo Wittenbecher, katholischer Klinikpfarrer im UKM. Eine intensive Zeit, die nicht nur bei den Angehörigen Spuren hinterlassen hat, weiß der katholische Seelsorger: „Auch bei den Pflegekräften und Ärzten sind enge Bindungen entstanden.“

Dr. Leo Wittenbecher ist katholischer Klinikpfarrer im UKM.

© privat

Viel hat sich in den vergangenen zehn Jahren, seit es die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen gibt, in der Palliativmedizin getan. In fünf Leitsätzen werden darin Aufgaben, Ziele und Handlungsbedarfe formuliert, um die Betreuung dieser Menschen zu verbessern und ihnen ein würdevolles Sterben zu ermöglichen. 2019 wurde eine weitere Leitlinie veröffentlicht – ebenfalls mit dem Ziel einer stetigen Verbesserung der Palliativmedizin. Die Schoberstiftung für christliche Hospizarbeit nimmt sich jährlich im November dieses Themas an. Coronabedingt müssen die geplanten Veranstaltungen zwar ausfallen, doch am Samstag, 31. Oktober, macht das Ehepaar Schober mit einem Kunstprojekt auf dem Kirchplatz der St.-Lamberti-Kirche in Münster auf die Wichtigkeit von Palliativ- und Hospiz-Versorgung aufmerksam. Bei der Aktion „Before I die – Was mir im Leben wichtig ist“ können Passanten den Satz „Bevor ich sterbe, möchte ich …“ mit bunter Kreide auf schwarze Tafelwände ergänzen.

Das ganzheitliche Denken in den vier Dimensionen medizinisch, pflegerisch, psycho-sozial und spirituell steht in der Palliativmedizin im Mittelpunkt. „Wir sehen den ganzen Menschen“, betont Wittenbecher. Der Seelsorger sowie Oberärztin Dr. Renate Schmidt und der pflegerische Leiter Michael Terborg, beide vom Palliativdienst im UKM, sind sich einig, dass dies besonders in der sogenannten kurativen Medizin, also der Medizin, die auf Heilung ausgerichtet ist, noch mehr sein könnte. „Der ganzheitliche Blick ist für die Heilung des Patienten grundlegend“, erläutert Schmidt. Insbesondere der Palliativdienst, der nicht nur die bis zu neun Patienten auf der Palliativstation betreut, sondern bis zu 40 unheilbare Kranke in den Kliniken des UKM aufsucht, könne dabei den Blick erweitern.

Ambulante Versorgung hat sich verbessert

Luft nach oben gebe es immer, sagt Terborg. Er arbeitet in der palliativen Versorgung, seit diese vor fünfeinhalb Jahren im UKM gegründet wurde, und beobachtet eine positive Entwicklung: „Besonders die ambulante Versorgung hat sich deutlich gebessert, in der Fläche sind wir gut aufgestellt.“ Auch gebe es immer mehr Menschen, die bereits über Dritte mit dem Palliativdienst in Berührung gekommen sind. „Wenn der Nachbar oder die Mutter der Bekannten dadurch Unterstützung erfahren hat, werden Hemmungen abgebaut.“ 

Von vielen Seiten hören die Ärzte und Pflegenden des Palliativdienstes, wie wichtig ihr Dienst sei. „Man schätzt an uns, dass schwere Erkrankungen beim Namen genannt werden und dass auch das Sterben ausgesprochen wird“, berichtet Renate Schmidt. Immer wieder machen sie und ihre Kollegen die Erfahrung, wie gut es Menschen am Lebensende tut, nicht fallen gelassen zu werden, wenn es keine Aussicht auf Heilung mehr gibt, sondern begleitet zu werden – nicht nur physisch, sondern auch bei existenziellen Fragen.

Das Geheimnis des Lebens berühren

„Wir reduzieren Patienten nicht auf ihre Bedürftigkeit“, bestätigt auch Klinikpfarrer Wittenbecher. Eine Herausforderung, besteht doch die Gefahr, dass die Krankheit in den Mittelpunkt gestellt wird. Eine wichtige Rolle, auch da sind sich die drei Vertreter der Palliativmedizin am UKM einig, nehme die Seelsorge ein. Spiritualität werde definiert als „das Geheimnis des Lebens berühren“, sagt Wittenbecher und verdeutlicht: „Wir schauen zusammen mit den Menschen danach, aus welchem inneren Geist heraus sie ihr Leben gestalten.“

Die Seelsorge dürfe dabei niemals mit dem „Koffer der Wahrheit“ daherkommen. „Wir erleben in Grenzfragen der Medizinethik oft einen Graubereich“, weiß Wittenbecher. Die Seelsorge spreche sich zwar immer für das Leben aus, „das bedeutet aber nicht, dass wir Christen die besseren Menschen sind“, betont der Geistliche. Auch im UKM als nicht-konfessionelles Haus erfahre er immer wieder, dass Ärzte und Pflegende mit einem hohen Maß an Verantwortlichkeit und Respekt vor dem Leben arbeiten.

Ritus nach Tod eines Patienten

Dankbar für die Angebote der Seelsorge sind nicht nur die Patienten, sondern auch die Angehörigen und Mitarbeitenden. „Wir haben täglich mit dem Sterben und Tod zu tun, da ist es wichtig, Ansprechpartner zu haben, an die man sich mit seinen eigenen Belastungen wenden kann“, sagt Terborg. „Was brauchst Du jetzt?“ Dieser Frage geht Wittenbecher mit den Mitarbeitenden nach – und hat mit einer Arbeitsgruppe einen Ritus entwickelt: „Wenn der Tod eines Patienten besonders nahe geht, setzen wir uns mit dem Team zusammen und jeder kann sich aus einer Reihe von Bildern eins aussuchen, das seiner Meinung nach zu dem Verstorben passt. Darüber kommen wir dann ins Gespräch.“ Kommunikation ermöglichen – auch das gehört zur Palliativmedizin. 

Ann-Christin Ladermann

 

Bildunterschrift: „Wir sehen den ganzen Menschen“, sagen (von links) Pfarrer Dr. Leo Wittenbecher, Dr. Renate Schmidt und Michael Terborg vom Palliativdienst des UKM. (Foto: Ann-Christin Ladermann)