Bischof Genn spricht über theologische Aspekte geistlichen Missbrauchs

, Bistum Münster

„Geistlicher Missbrauch hat gravierende Auswirkungen auf die emotionale und psychologische Befindlichkeit von Menschen. Nicht selten geht ein solcher geistlicher Machtmissbrauch auch dem sexuellen Missbrauch voraus, bereitet ihn geistlich-manipulierend vor.“ Das hat der Bischof von Münster, Dr. Felix Genn am 12. November betont. Bischof Genn sprach in seiner Funktion als Vorsitzender der Kommission für „Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste“ der Deutschen Bischofskonferenz auf einer Tagung der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen über „Theologische Aspekte des ‚Geistlichen Missbrauchs‘“.

„Größtes Gehör muss Opfern geistlichen Missbrauchs gelten“

Die Tagung, die aufgrund der Corona-Situation noch bis morgen digital stattfindet, steht unter dem Titel „Gefährliche Seelenführer? Geistiger und geistlicher Missbrauch“. Expertinnen aus Medizin, Psychologie, Rechtswissenschaft, Theologie und Kirchen diskutieren dieses Thema auch mit Betroffenen. In seinem Vortrag warb Bischof Genn für Offenheit und Transparenz im Umgang mit Verfehlungen geistlichen Missbrauchs. Das sei aber nicht einfach, sei geistliche Begleitung doch durch eine Schweigepflicht besonders geschützt. Umso wichtiger sei es daher, im Zuge der Beschäftigung mit geistlichem Missbrauch auch die Frage zu stellen, was Kriterien und Prüfverfahren für geistliche Begleitung in der Kirche sein könnten. 

Der Bischof machte deutlich, dass Missbrauch immer auch Missbrauch von Macht sei, der in einem bestimmten Beziehungsgefüge ausgeübt werde. „Geistlicher Machtmissbrauch im Speziellen bedeutet die Instrumentalisierung des geistlichen Bereichs des Menschen mit geistlichen Mitteln, die Verzweckung der Gottesbeziehung einer Person durch den Täter zur Erfüllung der eigenen Bedürfnisse und Ziele.“ Geistlicher Missbrauch betreffe den Raum der „geistlichen Intimsphäre“ einer anderen Person, der dem Täter entweder bewusst oder unbewusst zur Verfügung gestellt worden sei oder manipulierend geöffnet und dann ergriffen worden sei. „Darin ist all dasjenige inbegriffen, was zum Raum der persönlichen Gottesbeziehung eines Menschen gehört, zum Beispiel das Gottesbild, das Gebetsverhalten, die christliche Lebensgestaltung, die Kindererziehung, die eigene Bildung“, sagte Bischof Genn.

Er betonte, dass die Kirche den innersten Dialog des Menschen mit Gott als einen geschützten Bereich ansehe. Geistlicher Missbrauch könne ausgehend vom Selbstverständnis des Täters entstehen. Ein Täter könne sich die alleinige Kompetenz über Inhalte des Glaubens anmaßen und über die von ihm allein interpretierte Lehre Macht über andere Menschen ausüben. Der Täter nehme so „die Gottesbeziehung der begleiteten Person in seine eigene Verfügung und erhebt sich selbst in eine göttliche Position.“  Auf der Seite des späteren Opfers bestehe oft aufgrund der eigenen Unsicherheit ein Verlangen nach großer Klarheit im Glaubensleben. Häufig merke das Opfer zunächst gar nicht, wie sich sein Glaube verändere. „Der Täter verbiegt das Gewissen der Opfer entsprechend seiner eigenen Ansichten auf sich selbst hin und von Gott weg. Er hält das Opfer von anderen Beziehungen fern, womit im Opfer das Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins entsteht, die es beinahe unmöglich machen, sich aus der Abhängigkeit vom Täter zu lösen“, beschrieb der Bischof die Täterstrategie. Täter nähmen ihren Opfern den Raum für eine freiheitliche Entwicklung. Eine gute und gesunde geistliche Begleitung eröffne dagegen der Person, die sie begleite, den freiheitlichen Weg in die Gottes-Begegnung. „Das Ziel des geistlichen Lebens ist ein Wachstum in Glaube, Hoffnung und Liebe und keine Verstümmelung derselben“, betonte Bischof Genn.

Der Bischof warb für ein Vorgehen gegen geistlichen Missbrauch, das dem Dreischritt „Wahrnehmen – Deuten – Wählen“ folgen könne. Wichtig beim Wahrnehmen sei eine Haltung der Offenheit. „Das größte Gehör gilt den Armen, Ausgegrenzten und Opfern von geistlichem Missbrauch, die keinesfalls einfach Empfänger unserer ‚Barmherzigkeit‘ sind“, unterstrich Bischof Genn. Der zweite Schritt sei die Deutung der wahrgenommen Lebenssituation im Licht des Glaubens und in der Tradition der Kirche. Und bei erkanntem geistlichen Missbrauch sei es dann die Pflicht der Kirche, tätig zu werden. Zudem sei auch bei geistlichem Missbrauch eine gute Präventionsarbeit erforderlich: „Wir müssen als Kirche in Deutschland gemeinsam den Weg wählen, geistlichem Missbrauch vorzubeugen durch Kurse für gute geistliche Begleitung und Leitung, durch die Überprüfung von Statuten und vor allem durch eine vertiefte Kenntnis des Phänomens und der Erarbeitung einer Kriteriologie.“