Die wahre Geschichte eines "Lebens im Sterben"

, Bistum Münster

Wie eine „Vollbremsung bei voller Fahrt“ hat Johanna Burger (alle Namen geändert, die richtigen Namen sind der Autorin bekannt) aus Münster es empfunden, als sie und ihr Mann Karl im Herbst 2019 mitten in ihrem aktiven und lebendigen Alltag erfuhren, dass in seinem Kopf ein Hirntumor wuchs. Im Dezember 2020 starb Karl Burger mit 71 Jahren, nach mehreren Monaten, in denen er voll pflegebedürftig gewesen war und nicht mehr hatte sprechen können. Johanna Burger hat in dieser Phase sein „Leben im Sterben“ – wie es die diesjährige ökumenische Woche für das Leben vom 17. bis 24. April thematisiert – miterlebt. „Es war vielleicht eher ein Sterben im Leben“, sagt die 68-Jährige, „und ich weiß nicht, ob es zuletzt für ihn ein Leben war, wie wir es uns vorstellen.“

Und doch: Sie tat in dieser Zeit alles, damit er seine letzte Zeit als lebenswert empfand. „Man muss dem Sterbenden das Gefühl geben, dass er der Mittelpunkt ist und zu Hause seine Schutzburg ist“, findet sie, „er darf nicht das Gefühl haben, allein zu sein und Angst haben zu müssen.“ So bezog sie ihren Mann in ihr Leben ein und blieb mit ihm auch nonverbal in Verbindung – das gegenseitige tiefe Kennen nach mehr als drei gemeinsamen Jahrzehnten machte das möglich. 

Karl Burger hatte keine ernsthaften Vorerkrankungen gehabt. Erst zwei Tage zuvor war er mit seiner Frau von einem Wohnmobilurlaub, wie sie ihn liebten, zurückgekehrt, als im September 2019 der Tumor gefunden wurde. Seine Witwe schildert ihn als Macher, mit vielen Ehrenämtern in Sport, Politik und Gesellschaft, Familienmensch, bis zur Pensionierung gefordert in seinem Beruf als Lehrer. Und dann: die Vollbremsung. Es folgten Operation, Chemotherapie, Bestrahlungen. „Anfang 2020 ging es ihm relativ gut“, schildert Johanna Burger.

Die aufkommende Hoffnung, die Krankheit könne überstanden sein, trog: Bei einer Nachuntersuchung stellte sich heraus, dass der Tumor wieder gewachsen war. Eine erneute OP wurde nötig. Bei der Erholungsphase zu Hause erlitt Karl Burger eine Thrombose. Nach einem weiteren Krankenhausaufenthalt verlor er seine Sprachfähigkeit, wurde durch Lähmungen bettlägerig und pflegebedürftig. Johanna Burger wich nicht von seiner Seite. Für sie stand fest, sie würde ihn zu Hause betreuen. „Zum Glück hatten wir in der ersten Phase seiner Erkrankung vieles absprechen können“, sagt sie, „diese Klarheit hat mir die Entscheidungen erleichtert.“

Im Juni kam Karl Burger nach Hause – zum Sterben. „Wir wussten, dass er an den Folgen des Tumors sterben würde, aber nicht, wie lange es dauern würde“, sagt Johanna Burger. Es wurden sechs Monate, in denen sie rund um die Uhr für ihn da war. Unterstützung erhielt sie zweimal täglich vom Pflegedienst, außerdem von den Kindern, so weit diese das trotz ihrer eigenen familiären und beruflichen Verpflichtungen und der Corona-Einschränkungen leisten konnten. Noch heute dankbar ist Johanna Burger zudem für die Hilfe des Palliativnetzwerks Münster: „Dort fühlte ich mich buchstäblich aufgefangen.“ Später ließ sie ihren Mann auch vom ambulanten Hospizdienst des St.-Johannes-Hospizes Münster begleiten, sodass sie einmal wöchentlich für Erledigungen raus konnte. „Aber meine Gedanken blieben zu Hause“, sagt sie.

Dort hätten sie ein reduziertes Leben geführt. „Kommunikation hatten wir nur auf minimalster Basis“, sagt Johanna Burger, „ich habe gefragt, er hat ja oder nein signalisiert.“ Viel geschlafen habe er und immer Ruhe gebraucht; an Fernsehen, Radio oder andere Medien sei daher nicht zu denken gewesen. Ein großer Wohnbereich, in den die Küche integriert ist und in dem das Pflegebett aufgestellt wurde, ermöglichte ihnen dauerndes Beisammensein. „Manchmal haben wir lange da gesessen, Hand in Hand, und einfach in den Garten geschaut“, beschreibt Johanna Burger. Sie beschönigt die Situation nicht: „Das Sterben nimmt immer größeren Raum im Leben ein. Ich habe kaum noch geschlafen, war nur für ihn da. Und ich kann nur hoffen, dass er gefühlt hat, dass er das Wichtigste für mich war. Er sollte einfach spüren, dass die Situation in jedem Moment so gut wie eben möglich war, dass er nie eine Last war.“

Jetzt, rund drei Monate nach Karl Burgers Tod, muss seine Witwe das Erfahrene „noch sacken lassen und realisieren, dass das normale Leben außerhalb unserer vier Wände weitergeht. Wir waren komplett in unserer Welt.“ Die vergangenen Monate sind ihr an die Substanz gegangen: „Man passt in nichts mehr, buchstäblich nicht mal mehr in die eigene Haut.“ Und doch klingt, trotz allem, was verarbeitet werden muss, so etwas wie Dankbarkeit durch: „Wir hatten eine gute Beziehung, nur deshalb ging das so. Und ich bin froh, dass ich ihm das Sterben und Abschiednehmen zu Hause ermöglichen konnte.“

Anke Lucht