Ein gestohlenes Leben

, Bistum Münster

Dass vor allem Kinder die Leidtragenden von familiärer Armut sind, das hat der Online Fachvortrag „Sensibel für Armut in der Kita – Besonders in Corona-Zeiten?“ deutlich gemacht. Die Veranstaltung war vom Aktionsprogramm Kita – Lebensort des Glaubens des Bistums Münster in Kooperation mit der Münsteraner Akademie Franz Hitze Haus und der KTK Diözesan-AG für das Bistum Münster durchgeführt worden.

„Kinderarmut gleicht einem gestohlenen Leben“, brachte es Michael Klundt, Professor für Kinderpolitik im Studiengang Angewandte Kindheitswissenschaften der Hochschule Magdeburg-Stendal, auf den Punkt. „Wir sprechen hier von Kinderarmut in einem der reichsten Länder der Erde. Es geht dabei weniger um das absolute Elend und Verhungern, sondern vielmehr um Entbehrungen, Ausgrenzungen, Benachteiligungen im Verhältnis zum allgemeinen gesellschaftlichen Standard“, berichtete Klundt den knapp 80 teilnehmenden pädagogischen Fachkräften und Mitgliedern aus Seelsorgeteams. Im Blick behalten werden müssten Aspekte wie Lebensqualität, Bildung, Gesundheit und Zukunftschancen von Kindern.

Hinzu komme oft eine fehlende soziale Anerkennung und Wertschätzung, was dazu führen könne, dass Kinder aus betroffenen Familien ein eher geringeres Selbstwertgefühl entwickeln und damit auch mit ungünstigeren Voraussetzungen in die Schule starten. Dort würden sie dann wiederum „benachteiligt, indem sie bei gleichen Leistungen oft schlechter bewertet werden als Kinder aus wohlhabenden Familien“. Zudem gebe es eine Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, die „natürlich zur sozialen Spaltung beiträgt“. Die Ursachen von Kinderarmut seien auch Ursache politischer Entscheidungen, brachte er seine Meinung zum Ausdruck und kritisierte, dass viele politische Maßnahmenpakete nicht zur erhofften Verbesserung der Lebenssituation der Kinder führten. 

„Kinderarmut ist mehr als die Folge sozialer Ungleichheit. Von Armut bedrohte Familien und Kinder besitzen nicht nur weniger Geld, sondern haben zu wenig, um ein ausreichend ´gutes Leben` zu führen“, brachte es auch Sebastian Schiffmann, Akademie-Dozent und Mitarbeiter im Aktionsprogramm, auf den Punkt. „Dies kann krank, traurig oder depressiv machen und zur Ausgrenzung führen.“ 

„Armut ist ein mehrdimensionales gesellschaftliches Problem und ein prägender Faktor, der soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft fördert“, betonte Irina Volf vom Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) in Frankfurt. Armut sei aber zugleich auch eine individuelle Lebenssituation. Sie stelle ein hohes Risiko für die Entwicklung der Kinder im Vorschulalter dar. Im Schulalter beraube Armut die Kinder zahlreicher Entwicklungschancen, enge den Kreis der Möglichkeiten in der Jugend ein und hinterlasse deutliche Spuren bis ins Erwachsenenalter hinein.

Volf berichtete über die von ihr betreute, erste, deutschlandweite Langzeitstudie zu Folgen von Armut im Lebensverlauf, in der knapp 900 Kinder aus sozial-schwachen Familien zum Teil über zwei Jahrzehnte beobachtet wurden. Eine Erkenntnis: „Es gibt keine armen Kinder, sondern Kinder, die in armen Familien aufwachsen.“ Volf schlussfolgerte daraus, dass die Armutsursachen bei den Eltern beseitigt werden müssen, um Kinderarmut zu vermeiden. Ihre klare Botschaft an die pädagogischen Fachkräfte: „Sie können die strukturellen Ursachen nicht beseitigen, aber eine kind-bezogene Prävention gegenüber Armutsfolgen im Vorschulalter leisten und das Kind zusätzlich fördern.“ Volf gab Beispiele: So könne die materielle Lage der Kinder und ihrer Familien durch Tauschbörsen gemindert werden, Kinder könnte zudem eine kostenlose Teilnahme an Ausflügen ermöglicht werden. Abschließend riet die Wissenschaftlerin dazu, Vater-, Mutter-, Kind-Aktivitäten anzubieten, zum Erkunden des Sozialraums einzuladen und auf Freizeitangebote hinzuweisen.

„Die katholischen Kindertageseinrichtungen und Familienzentren im Bistum Münster verfügen durch ihre Eingebundenheit in das pastorale und soziale Umfeld über ein starkes Netzwerk, besonders auch für die Kinder und Familien, die von Armut bedroht oder betroffen sind“, ergänzte Kathrin Wiggering vom Kita-Aktionsprogramm. So gebe es in den Pfarreien und Verbänden Lebensmittelausgaben oder Kleiderstuben sowie Bildungs-, Beratungs- und Freizeitangebote, die kostenfrei oder kostengünstig genutzt werden können. Zudem sprängen häufig auch Fördervereine der Kitas oder die Pfarrcaritas ein, um kostenfreie Angebote zu ermöglichen. „Die Erzieherinnen und Erzieher kennen diese Orte und können eine Brücke oder ein Lotse für Familien zu diesen Angeboten sein“, ermutigte Wiggering.

Text: Jürgen Flatken