"Europa versenkt seine humanitären Grundpfeiler"

, Bistum Münster

Etwas hat sich verändert, das spürt Helmut Flötotto. Der Flüchtlingsbeauftragte des Bistums Münster beobachtet, wie Deutschland mit Flüchtlingen umgeht und ihr Schicksal diskutiert. „Die niveaulose Diskussion, die vor allem die Unionsparteien geführt haben, ist unsäglich“, stellt er fest, „in den sozialen Netzwerken wird der Tonfall immer rauer. Man diskutiert abfällig über das Überleben von Menschen.“ Flötotto fordert ein Umdenken von Bundesregierung und Europäischer Union (EU) – und Achtsamkeit von jedem einzelnen.

Der jetzigen Diskussion liegen aus Flötottos Sicht zwei Denkfehler zugrunde: „Zum einen hat die deutsche Politik geglaubt, durch die Dublin-Verträge der EU auf der sicheren Seite zu sein, sich mit Fluchtursachen nicht auseinandersetzen zu müssen.“ Zum anderen sei Globalisierung keine Einbahnstraße: „Europa schöpft Vorteile durch weltweite Märkte ab, lässt aber Menschen außer acht, vor allem die, die zu den Verlierern der Globalisierung zählen“, kritisiert Flötotto, „gerade die Kirche mit ihren internationalen Hilfswerken weiß um die weltweiten Auswirkungen der Globalisierung, die uns in Deutschland oft gar nicht so bewusst sind.“

Vor diesem Hintergrund sei es fatal, dass die Bundespolitik das Engagement für Flüchtlinge aus dem Jahr 2015 nicht aufgreift, sondern vermehrt auf Abschottung setzt. „Ich habe große Bedenken dagegen, zentrale Flüchtlingslager unter zweifelhafter Leitung anzulegen“, sagt Flötotto, „und wenn wir Menschen durch die Wüste zurückschicken in ihr Herkunftsland, verlagern wir nur das Sterben, sodass wir es nicht mehr mitbekommen.“ Außerdem werde durch diese Politik das rechte Parteienspektrum gestärkt.

Das oft geforderte Einwanderungsgesetz für Deutschland hält Flötotto für wünschenswert – wenn es verantwortungsbewusst gestaltet wird. „Denn wenn wir gute Fachkräfte dauerhaft abwerben, ist Deutschland damit geholfen, den Herkunftsländern nicht“, gibt er zu bedenken.

Ebenso wie Deutschland sieht der Flüchtlingsbeauftragte die EU in der Pflicht. „Das Grundprinzip Europas, Aushängeschild für Humanität zu sein, wird derzeit über Bord geworfen“, beklagt er und fordert: „Die EU-Mitgliedsstaaten müssen gemeinsam eine Flüchtlingspolitik erarbeiten, deren Kern nicht Abschottung ist, sondern die Schutz und würdige Behandlung bietet und die Mittelmeeranrainerstaaten nicht allein lässt.“ Langfristig müsse die EU faire Handelsbeziehungen zu den Herkunftsländern der Flüchtlinge aufbauen, anstatt etwa Altkleider oder Handelsüberschüsse an afrikanische Staaten zu liefern und so deren Märkte kaputt zu machen. Außerdem müsse die zu klein angelegte Entwicklungshilfe ebenso ausgebaut werden wie die Seenotrettung der EU: „Das Mittelmeer darf nicht zum Totenmeer werden.“ In dem Zusammenhang lobt Flötotto den Einsatz privater Seenotrettungsorganisationen: Diese hätten eine Lücke gefüllt, weil die europäische Grenzschutzagentur Frontex unzureichend ausgestattet ist. „Sonst wären noch mehr Menschen ertrunken“, befürchtet Flötotto.

Für das Bistum stellt er fest, dass das ehrenamtliche Engagement gegenüber 2015/16 zurückgegangen, aber immer noch hoch ist. Allerdings dauere es länger als erwartet, die Menschen in Arbeit zu vermitteln, wegen fehlender Deutschkenntnissen und der nicht auf deutsche Anforderungen zugeschnittenen Qualifikationen. „Hier gibt es aber viel Engagement im Mittelstand und bei den Kammern“, sagt Flötotto. Erschwert werde die Integration in den Arbeitsmarkt jedoch durch den oft unklaren Aufenthaltsstatus. „Man müsste den Menschen, sobald sie einem Ort zugewiesen sind, Schule und Ausbildung ermöglichen“, findet der Flüchtlingsbeauftragte, „davon profitieren wir ebenso wie die Herkunftsländer, wenn sie zurückkehren.“

Die große Politik ist das eine – für das gesellschaftliche Klima hingegen sind alle Deutschen verantwortlich. Flötotto rät, „im Sinne der Menschlichkeit Rückgrat zu zeigen, nicht einfachen Parolen oder Schwarz-Weiß-Malerei zu glauben. Denn für so ein komplexes Thema gibt es keine einfachen Lösungen.“ Bei allen Diskussionen solle man sensibel für die Sprache sein. Abschließend macht der Flüchtlingsbeauftragte Mut zur Menschlichkeit: „Wir können vertrauen, dass Deutschland stark genug ist für eine menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen. Auf die aufgebauten Strukturen dürfen wir stolz sein – daran können wir anknüpfen.“

Anke Lucht