Europas "starke Mitte" ist Thema beim Auftakt der DomGedanken

, Bistum Münster

Ein überzeugtes Plädoyer für ein starkes Deutschland mit politisch ebenso interessierten wie klugen Bürgerinnen und Bürgern hat am 22. August im St.-Paulus-Dom Münster Prof. Dr. Herfried Münkler gehalten. Unter dem Titel „Die zerrissene Mitte Europas – eine politische, geografische und kulturelle Diagnose“ warf Münkler aus Sicht eines Historikers einen Blick auf Situation und Funktion Deutschlands in Europa. Sein Vortrag war der erste der diesjährigen DomGedanken, die unter dem Obertitel „Über Deutschland“ stehen.

Herfried Münkler am Rednerpult im Dom.

Über die Situation und Funktion Deutschlands in Europa sprach Herfried Münkler zum Auftakt der DomGedanken.

© Bistum Münster

Münkler, der einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin innehat, leitete Deutschlands heutige Situation schon von der Französischen Revolution her. Sie „war das Startsignal dafür, dass die Deutschen in großem Stil begannen, sich gewissermaßen überhaupt erst als Deutsche zu entdecken“, erklärte der Redner. Diese „Selbstentdeckung“ habe sich an der Auseinandersetzung mit den Franzosen entwickelt, „an denen man sich orientierte oder von denen man sich abgrenzte.“ Dabei beinhalte die Frage nach Identität immer die Frage nach Herkunft und die nach Zugehörigkeit und verknüpfe beide miteinander.

Bei den Deutschen habe die Französische Revolution zum einen die Entstehung von Nationalismus befördert und sei zum anderen als Heilsgeschichte gedeutet worden. Außerdem hätten sich die Intellektuellen als Reaktion auf die Kultur zurückgezogen, und politisch sei eine Kultur der Reformen statt der revolutionären Verwerfungen entstanden. Deutschland habe sich einen Sonderweg zugeschrieben, indem es sich berief auf seine „tiefsinnige Kultur, die einmalig und vorbildlich sei.“ So sei die machtpolitische Konfrontation zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „Ausdruck der unterschiedlichen Wege in die Moderne“ gedeutet worden..

Tatsächlich müsse man aber die politische Geographie Europas historisch betrachten. Münkler leitete aus dieser Betrachtung den „Gegensatz zwischen Mitte und Flügelmächten“ ab, der das europäische und deutsche Schicksal bestimmt habe. Das 1871 gegründete Deutsche Reich habe sich zu einer Macht entwickelt, die zu stark war, um sich in Europa einordnen zu lassen, und zu schwach, um es politisch zu beherrschen. Die Auseinandersetzung Frankreichs und Englands mit dieser „starken Mitte“ sei in den Ersten Weltkrieg gemündet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg habe durch die deutsche Teilung diese Mitte gefehlt. Trotzdem seien die anderen Staaten nicht stärker geworden. „Bereits in den 1950-er Jahren zeichnete sich ab, dass Europa, wenn es in der Welt noch eine Rolle spielen wollte, dies nur auf Grundlage einer Überwindung der nationalstaatlichen Trennlinien tun kann“, stellte Münkler fest. Dass man allerdings das „Europa der Sechs“ des Anfangs für immer neue Beitrittskandidaten geöffnet habe, habe einen politisch-ökonomischen Raum entstehen lassen, „der größere Herausforderungen enthält, als Ressourcen und Kompetenzen zu deren Bearbeitung zur Verfügung stehen“. Hinzu kämen die Spaltungen innerhalb der Europäischen Union und die Entfremdung des Westens von den USA: Unter diesen Bedingungen hänge die Zukunft Europas von Deutschland ab. Deutschland müsse eine starke Mitte sein, ohne die Partner zu beherrschen. Diese Herausforderung sei nur zu bewältigen, „solange eine Mehrheit der deutschen Wahlbevölkerung die EU als langfristige Investition begreift, bei der sie bereit ist, zeitweise mehr einzuzahlen, als sie dafür an unmittelbarer Gegenleistung erhält.“ Das setze „beachtlichen politischen Weitblick bei einer großen Mehrheit der Wähler voraus“, betonte Münkler. Diese müsse rational und langfristig denken und dürfe sich von Populismus nicht beeinflussen lassen. Bis vor kurzem habe das – anders als in Frankreich oder Italien – auch funktioniert.

Münkler rief auf, mit der politischen Bedeutung Deutschlands in Europa verantwortungsbewusst umzugehen, und empfahl Deutschland eine auf lange Sicht angelegte Reformpolitik statt eines nationalistischen Diskurses. „Das Land in der Mitte eines politischen Großraums kann sich den Rückzug seiner Bevölkerung aus der Politik nicht leisten, aber noch weniger kann es sich einen Mangel an politischer Klugheit bei seinen Bürgern leisten“, sagte Münkler abschließend. Andernfalls werde Europa wohl endgültig scheitern.

Die DomGedanken gehen an vier Mittwochabenden weiter. Am 29. August folgt der Vortrag „Beste Freundschaft, schwer erworben“ des früheren israelischen Botschafters in der Bundesrepublik, Avi Primor. Am 5. September wird Prof. Dr. Thomas Sternberg, Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), zu „Der Christ ist kein Nationalist – im Auftrag der besten Traditionen Europas“ sprechen. Am 12. September geht es mit der Schriftstellerin Ulla Hahn um „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt?“. Den Schlusspunkt setzt am 19. September Christian Kullmann, Vorstandsvorsitzender der Evonik Industries AG, mit „Für die freiheitlich-soziale Moderne – Verantwortungsethik als Schlüssel“.

Zu sämtlichen DomGedanken-Abenden ist der Eintritt frei. Im Anschluss an die Vorträge sind die Zuhörer zum Austausch mit den Referenten eingeladen. Alle Termine werden live im Internet übertragen unter: www.bistum-muenster.de, www.paulusdom.de , www.katholisch.de, www.kirche-und-leben.de sowie unter www.youtube.com/user/BistumMuenster/live .

Anke Lucht