„Gott ist nicht für Missbrauch verantwortlich“

, Bistum Münster

„Was kann uns in Versuchung führen?“ Die sechste „Vaterunser“-Bitte ist für Prof. Dr. Thomas Söding eine ganz schwierige Bitte: „Viele hadern mit ihr, gerade Menschen, die das Vaterunser nicht herunterleiern“, sagte der und Professor für Neutestamentliche Exegese der Ruhr-Universität Bochum beim geistlichen Themenabend am 20. März im münsterischen St.-Paulus-Dom. Der Theologe war der zweite Redner der „Geistlichen Themenabende“ in der Fastenzeit. Sie stellen in diesem Jahr das „Vaterunser“ in den Mittelpunkt und werden musikalisch von Domorganist Thomas Schmitz umrahmt.

Prof. Dr. Thomas Söding

Prof. Dr. Thomas Söding sprach bei den geistlichen Themenabenden im St.-Paulus-Dom über die „Vaterunser“-Bitte „Führe uns nicht in Versuchung“.

© Bistum Münster

Mit Versuchung sei nicht der Antrieb zu all den lässlichen Sünden wie Naschen, Zanken oder Unandächtigkeit gemeint, betonte Söding: „Die Versuchung, von der Jesus im ,Vaterunser‘ spricht, ist existentiell. Ihr nachzugeben, bedeutet, das eigene Leben und das Leben anderer Menschen zu zerstören.“

Eine Versuchung könne nur sein, was einem Menschen lieb und teuer ist: „Eine Versuchung gibt es nicht ohne eigenen Antrieb. Der Anstoß kommt von außen, aber die Versuchung wohnt im eigenen Herzen.“ Sie knüpfe an das an, was Menschen wichtig finden, auch wenn es schlecht ist. Wenn Menschen sich von ihrer Gier beherrschen ließen, „wird das, was uns wahr, schön und gut ist, zur Versuchung.“ Söding ergänzte: „Wer möchte ein solcher Mensch sein? Wer möchte mit solchen Menschen zu tun haben?“

In der katholischen Kirche gebe eine ungute Tradition, all das als Versuchung zu verdächtigen, was Spaß mache, erklärte Söding: „Auf Jesus darf sich diese Miesepeterei nicht berufen“, nahm der Theologe diesen in Schutz und führte biblische Beispiele an. An Gott könne nicht glauben, wer die Schöpfung und das irdische Leben schlechtredet, befand Söding weiter: „Aber wer das Leben liebt, hat noch nicht die Versuchung zum Bösen bestanden.“

Der Theologe räumte ein: „Wer würde von sich sagen, Versuchungen nicht zu kennen, bei sich selbst und bei anderen? Man tut alles, um das Leben zu steigern – und wirft es weg.“ Die Bitte, nicht in Versuchung geführt zu werden, richte sich an Gott, weil die eigenen moralischen Kräfte überfordert seien. Die Bitte, sagte Söding, sei auch ein Geständnis: „Ich werde versucht; ich bestehe die Versuchung nicht. Führe mich nicht in Versuchung.“

Das Vaterunser ist Teil der Bergpredigt. Diese sei an die Jünger Jesu gerichtet und weise nicht mit dem Finger auf andere, sondern fordere zur Selbstkritik auf. „Welch erschreckende Aktualität“, lenkte der Theologe den Blick auf den Missbrauchsskandal und die damit verbundenen Diskussionen um Lebensform und Leitung in der katholischen Kirche: „Das muss sich die Kirche sagen lassen; jene, die Erfolg und Macht und Geld und Image und Lust dadurch gewinnen, dass sie im Namen Jesu auftreten: Kirche, führe uns nicht in Versuchung. Nutze nicht das Beste, das du hast, um Menschen abhängig zu machen - das Vertrauen, das das dir geschenkt wird, die sakramentale Kraft, die dir anvertraut wird, das Ethos, das du freisetzt.“ Die Versuchung, Gott zum Mittel der Selbsterhöhung zu machen, sei gefährlich und letztendlich der Kern aller Missbrauchsfälle, die die katholische Kirche zurzeit erschüttern.

Es wäre blasphemisch, Gott die Verantwortung für den Missbrauch seines Namens in die Schuhe zu schieben: „Dafür müssen Menschen, die sich auf Gott berufen, schon selbst geradestehen“, stellte Söding fest. Gott führe nicht in Versuchung, er führe aus der Versuchung heraus: „Das ist das Vertrauen, was wir im Vaterunser ausdrücken.“

„Gehört eine solche Bitte in das Gebet des Herrn?“, fragte der Theologe und lieferte gleich die Antwort: „Wohin, wenn nicht dort hinein?“ Jesus lehre, so zu beten, weil er selbst in Versuchung geführt worden sei. Wer mit den Worten Jesu bete, gebe nicht der Angst vor Gott Ausdruck, sondern dem Vertrauen, dass er in seiner Barmherzigkeit nicht tue, was er in seiner Allmacht tun könnte.


Text: Gudrun Niewöhner / Foto: Julia Geppert