Interview Pokropp-Hippen

Dr. Angelika Pokropp-Hippen aus Münster arbeitet seit 22 Jahren als Ärztin und Psychotherapeutin. Sie begleitet Frauen nach einer Abtreibung. Als Christin ist es ihr ein Anliegen "den Betroffenen zu ihrer Gesundung und den abgetriebenen Kindern zu einer würdigen Integration ihrer Existenz in Herz und Bewusstsein ihrer Familien zu verhelfen."

Anke Rehling hat Angelika Pokroppe-Hippen zu ihrer Tätigkeit befragt.

Mit welchen Symptomen haben Frauen, die zu Ihnen kommen, nach einer Abtreibung zu kämpfen?

Die Frauen leiden an Antriebsstörungen, Unruhe, Schlaf- und Konzentrationsstörungen, starken Stimmungsschwankungen, flashbacks ( unwillkürliches Überschwemmt werden mit Erinnerungsbildern und Gefühlen) zur Abtreibung, vegetativen Symptomen wie Zittern, Herzrasen, Angst- und Panikattacken und depressiven Störungen bis zu suizidalen Impulsen.

Welche Krankheitsbilder stecken dahinter?

Frauen, die an psychischen Folgen leiden, können akut traumatisiert nach einer Abtreibung sofort betroffen sein. Häufiger sehe ich die Folgeerkrankungen zu einem späteren Zeitpunkt.

Oft haben die Frauen keine professionelle Hilfe zur Bearbeitung der seelischen Folgen nach Abtreibung gefunden. Es gibt depressive Krankheitsbilder, Angststörungen und Patientinnen mit den Symptomen der Folgeerkrankung nach Abtreibung, dem Post Abortion Syndrom (PAS). Das PAS ist eine Sonderform der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD, engl.),1 da es in der Symptomatik den Kriterien der PTSD gleicht. Psychosomatische Folgen zeigen sich durch körperliche Symptome bei seelischen Ursachen. Sie können sich an den verschiedenen Organen und Organsystemen manifestieren oder verstärken. Beispiele sind Migräne, Asthma, Herzrhythmusstörungen, Magen-Darm Störungen, Schmerzen im Unterleib und Menstruationsstörungen, Rückenschmerzen sowie Befindlichkeitsstörungen. Hier ist die Zusammenarbeit mit den einzelnen fachärztlichen Kolleginnen und Kollegen wichtig, um die Diagnose abzusichern.

Welcher Anteil von Frauen, die ein Kind abgetrieben haben, hat anschließend Symptome, die behandelt werden müssen?

In Studien zur Entwicklung einer Posttraumatischen Belastungsstörung werden rund 30% erkrankte Frauen nach sexuellen Traumata beschrieben, die das Vollbild dieser Erkrankung zeigen.2 Diese Zahl lässt sich auch mit Veröffentlichungen zum Post Abortion Syndrom korrelieren und entspricht auch meinen Beobachtungen aus 22 Jahren Tätigkeit als niedergelassener Ärztin und Psychotherapeutin. Depressive Krankheitsbilder und Angststörungen sowie Essstörungen können auch ohne das Vollbild der Posttraumatischen Belastungsstörung neu auftreten oder sich in der Symptomatik verschlechtern, ebenso psychosomatische Krankheitsbilder. Insgesamt sind von Beeinträchtigungen unterschiedlicher Ausprägung und Stärke ca. 80 % der Frauen nach einer oder mehreren Abtreibungen betroffen,3 wobei nur ein Teil der Betroffenen einer ärztlichen oder psychotherapeutischen Behandlung bedarf.

Wann treten diese Symptome bei den Frauen auf (unmittelbar nach der Abtreibung, Jahre später…)?

Direkt nach einer Abtreibung beschreiben Frauen unterschiedliche Erfahrungen. Es gibt Frauen, die zunächst eine Entlastung erleben, wenn der hohe psychosoziale Druck nachlässt, der vor einer Abtreibung im Schwangerschaftskonflikt in den meisten Fällen vorliegt. Ein Teil der Frauen erkrankt Tage, Wochen oder Monate später am Post Abortion Syndrom, der Folgeerkrankung nach Abtreibung. Auch Jahre oder Jahrzehnte später kann durch einen trigger (auslösender Impuls) die Symptomatik beginnen. Es gibt die akute Form ein bis drei Monate nach dem Trauma, die chronische Form mehr als drei Monate nach dem Trauma und die Erkrankung mit verzögertem Beginn, wo die Symptomatik sechs Monate bis Jahre später auftritt. Der Sterbetag des Ungeborenen, eine erneute Schwangerschaft auch im sozialen Umfeld, Fehlgeburt oder Geburt, Familienereignisse wie Unfall oder schwere Erkrankung vor allem bei eigenen Kindern können Auslöser sein. Schwellenthemen wie Auszug der Kinder und Klimakterium (Wechseljahre), Trennung oder Scheidung, eine Erkrankung sowie die Konfrontation mit Sterben und Tod können den Ausbruch der Erkrankung bahnen.

Woraus entstehen die psychischen Probleme?

Frauen, die eine Abtreibung bedauern und das ungeborene Kind betrauern, sind nicht einer besonders zu psychischen Krankheiten neigenden Gruppe der Bevölkerung zuzuordnen.

Dies hat man in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch von den „Kriegszitterern“ an den Fronten des 1. und 2. Weltkrieges angenommen. Die Holocaustforschung und die Vietnamveteranen führten zu Verständnis und Akzeptanz der Posttraumatischen Belastungsstörung. Jede Frau kann nach der traumatischen Erfahrung einer Abtreibung erkranken, sie muss es aber nicht. Weitere belastende Faktoren im psychosozialen Umfeld können die Wahrscheinlichkeit einer psychischen oder psychosomatischen Erkrankung erhöhen.

Wie helfen Sie den betroffenen Frauen?

Ich nehme mir zunächst Zeit, um den Frauen zuzuhören und eine Anamnese (Krankengeschichte) zu erheben. Dann versuche ich den Beginn der geschilderten Symptome mit auslösenden Ereignissen in Beziehung zu setzen. Wenn sich zeigt, dass eine oder mehrere Abtreibungen in einem kausalen Zusammenhang mit neu aufgetretenen oder verstärkten Krankheitsbildern stehen, biete ich an, diese Thematik zu bearbeiten. Ich habe einen Fragebogen entwickelt, welchen die Frauen ausfüllen können, wenn sie für sich selbst genauer wissen möchten, ob und in wie fern sie betroffen sind. Dieser Fragebogen kann auch helfen, wenn Frauen bei mir oder andernorts therapeutische Hilfe suchen.

Meine Hilfe kann von der Behandlung im allgemeinärztlich-naturheilkundlichhomöopathischen Bereich bis zur tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie reichen. Ich bin traumatherapeutisch mit der Katathym Imaginativen Psychotraumatherapie (KIPT) tätig. Bei dieser Methode wird die Fähigkeit des Gehirns genutzt, über innere Bilder ähnlich den Traumbildern heilende Bilder, Versprachlichung von Traumatisierungen und Integration in den Lebenskontext zu erreichen.

Gemeinsam mit einer psychotherapeutisch tätigen Kollegin biete ich auf Spendenbasis Wochenendseminare für Frauen und Männer sowie Paare an, die an Folgen nach Abtreibung leiden. Diese Seminare (Wege zum Schattenkind) finden in Begleitung eines katholischen oder evangelischen Geistlichen statt.

Ein Buch zum Thema unter dem Titel „Wege zum Schattenkind“ habe ich 2014 im fe-Medienverlag Kisslegg veröffentlicht. Es enthält Fallberichte betroffener Frauen und Wissenswertes zum Post Abortion Syndrom. Bei der Gründung von Selbsthilfegruppen zum Thema; „ Trauer nach Abtreibung“ stehe ich gerne unterstützend zur Verfügung.

Was ist für die Überwindung der Probleme wichtig?

Wie bei allen psychischen und psychosomatischen Krankheiten ist es wichtig, vorhandene Ressourcen zu nutzen, um traumatische Erfahrungen bearbeiten und integrieren zu können. Im Falle der Verlusterfahrung nach Abtreibung ist die Trauerarbeit häufig durch eine Isolationsneigung aus Schuld- und Schamgefühlen erschwert. Es ist von großer Bedeutung diese Barriere zu überwinden. Wie bei anderen Trauerthemen auch ist es wichtig, in die Versprachlichung und emotionale Bearbeitung zu finden. Ob dies im privaten Bereich oder durch professionelle Unterstützung geschieht, hängt von der psychischen Belastung ab. Auch die Seelsorge kann heilend und helfend den Betroffenen zur Seite stehen. Es ist dringend notwendig in den wissenschaftlichen und beruflichen Feldern der helfenden Berufe die Folgeerkrankung nach Abtreibung, das Post Abortion Syndrom (PAS), bekannt zu machen.

Das PAS kann mit den bei der Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung etablierten Methoden therapiert werden. Die gesellschaftliche Akzeptanz des Krankheitsbildes ist notwendig, damit die Erkrankten die ihnen zustehende Hilfe finden und ihre Betroffenheit zum Ausdruck bringen können.

Aus welchen Motiven entscheiden sich Frauen Ihrer Erfahrung nach für eine Abtreibung?

Die Frauen berichten fast alle, dass sie sich allein gelassen fühlten im Schwangerschaftskonflikt. Eine wichtige Rolle spielt der Kindsvater, aber auch die Eltern, Geschwister, Freunde und Arbeitskollegen, so man sich ihnen anvertraut. Viele Frauensuchen in Beratungsstellen Hilfe zum Leben mit dem Kind und fühlen sich durch ergebnisoffen geführte Gespräche emotional nicht genügend unterstützt. Oft können sie ihre Hoffnung, Mut zum Leben mit dem Kind zu finden, nicht formulieren. In der Konfliktsituation fehlt oft das Selbstvertrauen, den Wunsch nach dem Kind im Umfeld auszudrücken und zu verteidigen. Diese Hilflosigkeit und Ohnmacht knüpft nicht selten an andere Erfahrungen dieser Art im sonstigen Leben an.

Finanzielle Gründe spielen nach meiner Erfahrung nicht die wesentliche Rolle, denn auch Frauen, die abtreiben, wissen nach meiner Erfahrung, dass ihnen Hilfen angeboten würden. Die Sorge um ein krankes oder behindertes Kind und der Druck, sich in Kürze zu entscheiden, bringen Frauen und Männer in einen Konflikt, welcher viele überfordert. Wenn Frauen ein im Mutterleib durch Spätabtreibung getötetes Kind zur Welt bringen müssen, stellt dies eine hohe psychische Traumatisierung dar.

Wie müsste die Gesellschaft sein / sich wandeln, um Frauen in der Entscheidung für ihre Kinder und gegen Abtreibung zu stärken?

Die Gesellschaft müsste die Ziele einer kinderfreundlichen Familienpolitik mit entsprechenden Rahmenbedingungen der Unterbringung von Kindern und der flexiblen Arbeitszeiten für Mütter und Väter in den Fokus des Interesses und der Hilfe nehmen. Dies schließt eine familienfreundlichere Steuerpolitik und Tarifpolitik mit ein.

Kinder dürfen nicht länger ein Armutsrisiko vor allem für viele Alleinerziehende bedeuten. Die Bedingungen zur Unterstützung kinderreicher Familien und deren Anerkennung als Leistungsträger unserer Gesellschaft sind notwendig. Die Möglichkeit der Rückkehr nach Kindererziehungszeiten mit besseren beruflichen Entwicklungschancen ist von Bedeutung.

Die Wertschätzung für Mütter und Väter muss durch konkrete Unterstützung in Politik und Kirche zum Ausdruck kommen.

Wie sind Sie persönlich dazu gekommen, sich in diesem Bereich besonders zu engagieren?

Ich habe drei Kinder nach einer Risikoschwangerschaft zur Welt gebracht und ein Kind in der zehnten Schwangerschaftswoche verloren. Diese Erfahrungen haben mein Bewusstsein für die Kostbarkeit und Einmaligkeit jedes menschlichen Wesens vertieft. So verstärkte sich der Wunsch, mich für die wehrlosesten menschlichen Geschöpfe einzusetzen, die ungeborenen Kinder. Mein christlicher Glaube motiviert mich zu dieser Arbeit für die Würde und das Lebensrecht aller Menschen vom Moment der Zeugung bis zum natürlichen Tod.

Die seelische Not der Frauen nach Abtreibung und ihre Isolation begegnen mir in meiner ärztlichen und psychotherapeutischen Tätigkeit. Ihr gesellschaftlich häufig unbeachtetes Leid bedarf der Akzeptanz und angemessenen Hilfe, wozu ich beitragen möchte.

Eine amerikanische Studie belegt, dass 66 % der Beziehungen nach einer Abtreibung zerbrechen, Frauen zu mehr als 92% an Schuldgefühlen und zu mehr als 88 % an depressiven Symptomen leiden. Von diesen Erkrankungen der Mütter sind auch die geborenen Kinder und die Familien betroffen. Mehr als 50% der Frauen haben laut dieser Studie nach Abtreibung Suizidgedanken, ca. 40 % begannen Drogen zu nehmen, 36,5 % flüchteten in den Alkohol.4

David M. Fergusson (Finnland) wies in einer 1997 veröffentlichten Studie nach, dass fast jede zweite Frau nach Abtreibung psychisch erkrankt.5

In einer Langzeitstudie aus Norwegen beschreibt der Soziologe Willy Pedersen an der Universität Oslo, welcher 11 Jahre lang 768 Frauen zwischen 15 und 27 Jahren wissenschaftlich begleitete, dass das Suchtverhalten (Alkohol und Drogen) bei jungen Frauen signifikant höher war als bei jenen, die sich für ein Kind entschieden.6 Ich engagiere mich, die oft versteckte Erkrankung der am Post Abortion Syndrom leidenden Frauen (und Männer) nach Abtreibung bewusst zu machen. Es ist mir auch als Christin ein Anliegen, den Betroffenen zu ihrer Gesundung und den abgetriebenen Kindern zu einer würdigen Integration ihrer Existenz in Herz und Bewusstsein ihrer Familien zu verhelfen, was der inneren Heilung dient.

Dr.med.Angelika Pokropp-Hippen

______________

1. Angelika Pokropp-Hippen, Wege zum Schattenkind, fe - Medienverlag Kisslegg 2014, S.192
2. http://www.ptsd.va.gov/publicPTSD-overviwe/women/sexual-assault-females.asp
3. Reardon David C., The Post Abortion Review, Elliot Institute 1994 oder Reardon David C., Psychological reactions reported after abortion in: www.afterabortion.org/survey2.htm
4. S. Fußnote 3
5. Suicides after pregnancy in Finland, 1987-94:register linkage study.BMJ.1197 Mar;314(7084):902;Gissler,M. et al., Unit of Statistics, National Research and Development Centre for Welfare and Health, STAKES, Helsinki, Finland.
6. http://sjp.sagepub.com/cgi/content/abstract/36/4/424 - Addiction 2007; 102(12):1971-1978