„Juden in Deutschland sollen bei uns Heimat finden“

, Stadtdekanat Münster

„Kein jüdischer Bürger darf Angst haben.“ Das betont der emeritierte Aachener Bischof Heinrich Mussinghoff im Vorfeld des Gedenkens an die Reichspogromnacht am 9. November. „Wir alle sind verpflichtet, für die Sicherheit von Juden einzutreten und fordern alle Mitbürgerinnen und Mitbürger in Münster auf, in Solidarität für unsere Juden einzustehen und echte Geschwisterlichkeit zu leben.“ Mussinghoff wird am Freitag, 8. November, bei einer Gedenkstunde in der münsterschen Synagoge sprechen, bei der der Zerstörung der Synagoge und anderer jüdischer Einrichtungen in Münster und in Deutschland im November 1938 gedacht wird.

Bischof em. Heinrich Mussinghoff

Bischof em. Heinrich Mussinghoff spricht am Freitag, 8. November, bei einer Gedenkstunde in der Synagoge in Münster zum Thema „Erinnerung mahnt, Verantwortung bleibt, Zukunft schafft Hoffnung“.

© Bistum Aachen / Andreas Steindl

Für Mussinghoff ist es eine Pflicht, die Erinnerung an die Gewalt gegen Juden auch mehr als 80 Jahre danach wach zu halten. „Es wird bald keine Überlebenden der Shoa mehr geben. Wenn wir aber das Wissen und das Leiden an den NS-Verbrechen nicht weitergeben, versickert dieses Wissen und der Schmerz um das Unheil, das Juden getroffen hat“, mahnt der Bischof. Schon immer habe es Menschen mit einer antisemitischen Haltung gegeben. Heute käme eine „unglaubliche Aggressivität“ hinzu, die in Wut- und Hassreden vor allem auch in der Politik unüberhörbar sei. „Nein, die Shoa ist nicht zu Ende“, stellt der frühere Aachener Bischof fest und fordert eine Erinnerungskultur, „die der Verbrechen von damals gedenkt“. 

Christen haben, so Mussinghoff, die Pflicht, gute Beziehungen zu den in Deutschland, aber auch in Israel und den USA lebenden Juden zu pflegen. „Sie sind – wie Papst Johannes Paul II. gesagt hat – ‚unsere älteren Geschwister im Glauben‘ und: Wir stehen gemeinsam für die uns verbindenden Grundanschauungen in Kultur und Ethik unserer europäischen Gesellschaft.“ 

Mussinghoff wünscht den Juden in Deutschland, „dass sie bei uns Heimat finden“. Sie hätten das Land bereichert in den verschiedensten Bereichen von Wissenschaft, Forschung und gesellschaftlichem Leben. „Ich freue mich über neue Synagogen von hoher architektonischer Qualität, jüdische Grundschulen und Gymnasien, Hochschulen und Lehrstühle für jüdisches Leben, Kultur und Theologie.“ Jüdisches Leben habe sich differenziert in unterschiedliche Richtungen und Gemeinden entwickelt, sagt der Aachener Bischof, der sich über Gespräche, Zusammenarbeit und Freundschaften freut. „Gern gehe ich auch am Sabbat gelegentlich in die Synagoge und habe den Eindruck: Es verbindet mehr als uns trennt.“

Vor 81 Jahren erreichten die Gräueltaten der Nationalsozialisten mit der Zerstörung und Verbrennung vieler Synagogen und jüdischer Geschäfte einen ersten tragischen Tiefpunkt. Mit sechs Kerzen wird bei der Gedenkstunde in der Synagoge an die mehr als sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens erinnert, die der Terrorherrschaft zum Opfer fielen.

Ann-Christin Ladermann

 

Im Folgenden lesen Sie das Interview mit Bischof em. Heinrich Mussinghoff im Wortlaut:

Pressestelle Bistum Münster: Was sagen Sie jüdischen Mitbürgern, die sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlen?

Bischof em. Mussinghoff: Ich werde meinen jüdischen Mitbürgern mein tief empfundenes Mitleid zu dem Anschlag in Halle sagen, denn der Anschlag in Halle zielte auf die in der Synagoge zum Gebet versammelte Gemeinde, die zudem das Versöhnungsfest feierte, den höchsten jüdischen Feiertag des Jahres, an dem Juden in der Synagoge beten und fasten. Der Hass und die Wut des Angreifers entlud sich im Umfeld der Synagoge, wo er zwei Menschen erschoss und mehrere verletzte. Dieses schreckliche Verbrechen hat uns zutiefst erschüttert und lässt uns fragen, ob wir nicht aus der Shoa gelernt haben.

Wir Christen und die deutsche Gesellschaft sind verpflichtet, wo immer Menschen jüdischen Glaubens angegriffen werden, diese in Wort und Tat zu schützen. Unser christlicher Glaube wurzelt im jüdischen Glauben. Wir lesen die Thora, wir verehren den Gott Israels, wir beten mit ihnen die Psalmen; wir sind Schwestern und Brüder im Glauben. Wir sind zu ihrem Schutz verpflichtet. Kein jüdischer Bürger darf Angst haben. Wir alle sind verpflichtet, für die Sicherheit von Juden einzutreten und fordern alle Mitbürger in Münster auf, in Solidarität für unsere Juden einzustehen und echte Geschwisterlichkeit zu leben.

Wie wichtig ist es, die Erinnerung an das Pogrom auch mehr als 70 Jahre danach wach zu halten?

Gerade der Anschlag auf die Synagoge in Halle macht uns erschreckend klar, wie tief der Judenhass in unserer Gesellschaft eingewurzelt ist. Das zeigen auch Angriffe auf Juden in Schulen und sozialen Einrichtungen.

Juden haben Angst bei uns in Deutschland, Angst, dass sie angepöbelt werden, dass sie ausgegrenzt und angegriffen werden. Jüdische Männer und Jungen fürchten sich, die Kippa (jüdische Kopfbedeckung) zu tragen oder sich durch sonstige jüdische Symbole an Kleidung, als Schmuck oder an den Häusern kenntlich zu machen.

Nach mehr als 70 Jahren wird es bald keine Überlebenden der Shoa mehr geben. Wenn wir aber das Wissen und das Leiden an den NS-Verbrechen nicht weitergeben, versickert das Wissen und der Schmerz um das Unheil, das Juden getroffen hat. 70 Prozent der europäischen Juden wurden durch den NS-Terror umgebracht und die, die überlebten, haben keine Väter und Mütter, Großeltern, Tanten und Onkel gehabt. Diese schrecklichen Verbrechen leben in den Seelen und psychischen Belastungen fort. Nein, die Shoa ist nicht zu Ende. Wir wissen, dass es schon immer einen Bodensatz von ca. 20 Prozent der Bevölkerung mit antisemitischen Einstellungen gegeben hat. Was heute dazu kommt, ist die unglaubliche Aggressivität, die wir in den Wut- und Hassreden vor allem auch im politischen Bereich wahrnehmen. Das färbt auf unsere Jugend ab und auf die Gesamtgesellschaft. Das bedeutet: Wir brauchen eine Erinnerungskultur, die der Verbrechen von damals gedenkt. Wir haben die Last der Geschichte zu tragen. Wo sie nicht aufgearbeitet wird, bleibt sie als Schwelbrand im Volkskörper und richtet weiteres Unheil an. Die Gedenkstunde zum Holocaust am 9. November ist eine Verpflichtung aller Verantwortlichen. Juden müssen in unserer Gesellschaft, in Schulen und Bildungshäusern und Verbänden angstfrei und in Sicherheit leben können. 

Welche Verpflichtungen haben wir Christen gegenüber unseren älteren Geschwistern, den Juden?

Als Christen haben wir die Pflicht, den bei uns lebenden Juden (aber auch denen in Israel und USA) die Geschwisterlichkeit zu leben, gute Beziehungen mit ihnen zu pflegen; denn Jesus und die ersten Christen waren Juden. Paulus sagt, dass wir Christen auf der jüdischen Religion eingepfropfte Zweige sind, ja „das Heil kommt von den Juden“ sagt das Johannesevangelium (Joh 4,2). Unter den übrigen Religionen hat das Judentum mit unserer Kirche eine besondere Beziehung (deshalb gehört die Kommission für die religiösen Beziehungen mit den Juden zur Ökumene-Kommission der Katholischen Bischofskonferenz).

Sie sind – wie Papst Johannes Paul II. gesagt hat – „unsere älteren Geschwister im Glauben“ und: Wir stehen gemeinsam für die uns verbindenden Grundanschauungen in Kultur und Ethik unserer europäischen Gesellschaft.

Was wünschen Sie den in Deutschland lebenden Juden für ihre Zukunft?

Ich wünsche den Juden in Deutschland, dass sie bei uns Heimat finden.
Sie gehören zu unserer gemeinsamen Kultur. Sie haben unser Land bereichert in den verschiedensten Bereichen von Wissenschaft und Forschung und gesellschaftlichem Leben. Ich freue mich über neue Errungenschaften: Viele neue Synagogen von hoher architektonischer Qualität sind entstanden; es gibt jüdische Grundschulen und Gymnasien, Hochschulen und Lehrstühle für jüdisches Leben, Kultur und Theologie. Das jüdische Leben hat sich differenziert in unterschiedliche Richtungen und Gemeinden. Wir arbeiten zusammen in christlich-jüdischen Gesellschaften. Ich freue mich über Gesprächsbereitschaft, Zusammenarbeit und Freundschaften. Gern gehe ich auch am Sabbat gelegentlich in die Synagoge und ich habe den Eindruck: Es verbindet mehr als uns trennt. Als Geschwister haben wir gemeinsame Auffassungen von Religion und Kultur, von Ethik und sozialer Arbeit.
Wir sind Geschwister im Glauben und Leben.