Santini-Sammlung wird digitalisiert

, Bistum Münster

Sie ist eine der wertvollsten Quellen italienischer Musik des 16. bis 19. Jahrhunderts. In der Diözesanbibliothek in Münster ist die umfangreiche Santini-Sammlung in 85 laufenden Regalmetern zu finden. 20.000 Titel des römischen Priesters und Musikers Abate Fortunato Santini (1777 bis 1861) können in 4500 Handschriften und 1200 Drucke nach Anmeldung eingesehen werden. Ziemlich umständlich für Musikliebhaber, die nicht in Münster leben, sondern gar aus dem Ausland auf die Sammlung zugreifen wollen. Weil die letzte technische Neuerung ins Jahr 1985 zurückliegt – damals wurde der Bestand auf Mikrofiches verfilmt, für die spezielle Lesegeräte benötigt werden – wagt die Abteilung Kunst und Kultur im Bistum Münster in Kooperation mit dem Institut für Musikwissenschaft der Universität Münster jetzt den Schritt in die elektronische Digitalisierung.

Seit April arbeitet Michael Werthmann vier Tage pro Woche in der Diözesanbibliothek – inmitten von Santinis Handschriften und Drucken. Auf drei Jahre ist die Projektstelle angelegt, die das Bistum geschaffen hat und die vom Institut für Musikwissenschaft bezuschusst wird. Gleich mehrere Aufgaben hat der 34-jährige Musikwissenschaftler, der parallel promoviert – natürlich zu den Werken Santinis. „Ich bin dabei, den gesamten Bestand aufzulisten, vor allem die Drucke, die bisher noch nirgendwo digital vollständig erfasst sind“, erklärt Werthmann. Über 1000 Drucke muss er dafür in die Hand nehmen und die jeweiligen Daten in einer Exceltabelle eintragen. „Ich halte den Namen des Komponisten fest, Erscheinungsjahr und -ort, Umfang, Gattung, Besetzung, Notenart und, wenn es sie gibt, auch die Druckplattennummer und alte Signaturen“, beschreibt der Wissenschaftler.

Michael Werthmann sitzt am Schreibtisch.

Michael Werthmann digitalisiert die umfangreiche Santini-Sammlung in der Diözesanbibliothek.

© Bistum Münster

Ein besonderes Augenmerk legt er bei der Durchsicht auf mögliche handschriftliche Vermerke Santinis, die neue Erkenntnisse für die Forschung liefern können. „Damit sind zum Beispiel beschriebene Einlegeblätter oder auch persönliche Widmungen gemeint“, sagt Werthmann und gibt ein Beispiel: „Felix Mendelssohn Bartholdy hat auf das Titelblatt seines Violinkonzertes eine freundschaftliche Widmung an Santini geschrieben und ihm dann das Werk zwischen 1845 und 1847 zukommen lassen. Wir wissen, dass Bartholdy Santini in den 1830er Jahren in Rom besucht hat, von einem späteren Kontakt ist nichts bekannt. Diese und weitere Widmungen zeigen aber, dass die beiden durchaus noch miteinander in Verbindung standen.“ Fällt Werthmann ein solcher Vermerk in die Hände, hat dieser klare Priorität. Das gilt auch für die rund 4500 Handschriften, die er nach und nach im Bistumsarchiv einscannt. „Ich wäge anhand verschiedener Parameter ab, welche Handschrift Exklusivitätscharakter hat, welche also zuerst digitalisiert wird, weil vielleicht die Nachfrage danach häufiger und wahrscheinlicher ist“, erklärt er. Denn ob es alle Handschriften bis zum Projektende unter den Scanner schaffen, ist ungewiss. 

Felix Mendelssohn Bartholdy hat auf das Titelblatt seines Violinkonzertes eine freundschaftliche Widmung an Santini geschrieben, die bisher noch nicht digital erfasst ist. „Al Sgr Abbate Fortunato Santini dal suo sincero amico F. Mendelssohn Bartholdy“, also „An Signore Abbate Fortunato Santini von seinem aufrichtigen Freund F. Mendelssohn Bartholdy“ steht dort geschrieben.

© Bistum Münster

Eine mühsame und kleinteilige Arbeit, die Werthmann dennoch jedes Mal aufs Neue fasziniert. Seit seinem Masterstudium, das er 2012 mit einer Arbeit über Santini abschloss, begleitet ihn der italienische Musiker. „Ich habe im Rahmen eines Seminars an einem Ausstellungskatalog über Santinis Werke mitgearbeitet, habe bei einer Tagung einen Vortag gehalten und das Programmheft für ein Konzert mit Werken aus seiner Sammlung geschrieben“, erinnert sich der Musikwissenschaftler. Er vertiefte sich in die Arbeit Santinis, der schon als Kind eine musikalische Ausbildung erhielt und später in Kirchen- und Adelsarchiven in Rom Manuskripte und Drucke von Komponisten abschrieb oder aus Einzelstimmen Partituren erstellte. Zusammen mit dem musikalischen Nachlass seines Lehrers Giuseppe Jannacconi entstand so schnell eine beachtliche Sammlung. 1820 erschien sein erster Katalog mit rund 2000 Titeln und machte ihn auch international bekannt, wodurch sich der Bestand um deutsche, englische, französische und weitere Werke erweiterte.

„Es ist beeindruckend, wie es Santini im 19. Jahrhundert, ganz ohne Telefon und Internet, gelungen ist, ein solches Netzwerk aufzubauen“, findet Werthmann – zumal Santini Italien nie verlassen habe. „Die Leute sind zu ihm gekommen, er muss einen unheimlich regen Briefkontakt zu vielen Komponisten und anderen Musiksammlern gehalten haben“, vermutet er. Der 34-Jährige selbst hat großen Respekt davor, täglich mit den Originalen arbeiten zu dürfen. „Äußerlich ist es nur Papier, aber manchmal spüre ich eine gewisse Magie, die davon ausgeht“, beschreibt er. Einmal, erinnert Werthmann sich, habe er ein Haar in einer Handschrift entdeckt. Ob es sich dabei um Santinis handelte? „Da wird einem bewusst, dass das Geschichte ist, die man in den Händen hält, dass diese Bände enorm viel miterlebt haben, allein der Transport hierher, wahrscheinlich mit Kutschen über die Alpen.“

Aufgrund des Lockdowns pausiert Werthmann im Moment mit der Bestandserfassung. Lieber widmet er sich aus dem Homeoffice heraus einer anderen Aufgabe: Die Sammlung soll nämlich später nicht nur nach bestimmten Faktoren digital durchsucht werden können, sondern optisch ansprechend und informativ im Internet präsentiert werden. „Ich arbeite an einer digitalen Plattform, einer Art Wissensdatenbank“, beschreibt er. Dazu verfasst Werthmann Erklärtexte zu Santini, zu wichtigen Werken, Gattungen, Wegbegleitern, die untereinander per Link verknüpft werden sollen. „Das spiegelt das Netzwerk von Santini dann auch digital wider“, freut er sich.

Hintergrund

Santini verkaufte seine Sammlung 1855 auf Initiative des münsterischen Klerikers Bernhard Quante, Domvikar und Lehrer für Kirchengesang, an das Bistums Münster. Seine Bedingung: Bis zu seinem Tod solle die Sammlung in Rom bleiben. 1862 wurde sie nach Münster gebracht, wo sie in Vergessenheit geriet. Erst etwa 40 Jahre später wurde die Sammlung erneut gesichtet, ein angefertigter Katalog blieb jedoch unvollständig. 1923 übernahm die Universitätsbibliothek die Sammlung für 25 Jahre per Leihvertrag. Ein bis 1943 erstellter vollständige Zettelkatalog wurde bei einem Bombenangriff zerstört. Die Sammlung selbst war ausgelagert worden und konnte nach Kriegsende unversehrt in die Universitätsbibliothek zurückkehren, wo dann im Januar 1946 durch einen Hochwassereinbruch etwa fünf Prozent der Bestände überflutet und nur noch teilweise gerettet werden konnten. Dabei gingen wichtige Manuskripte (u.a. von Palestrina und Pergolesi) verloren. Nach Auslauf des Leihvertrages 1948 übernahm das Bistum wieder die Sammlung und lagerte sie im Diözesanarchiv. Ein dort erstellter alphabetischer Katalog bildet noch heute die grundlegende Informationsquelle. Inzwischen ist der Handschriftenbestand auch komplett im Internationalen Quellenlexikon RISM „Répertoire International des Sources Musicales“. 1958 zog die Santini-Sammlung in die Bibliothek des Priesterseminars, der heutigen Diözesanbibliothek Münster. 

Ann-Christin Ladermann