Wucherpfennig fordert Neustart in der Sexualmoral der Kirche

, Bistum Münster

Sexualisierte Gewalt durch Geistliche und deren Vertuschung, Tabus in der Sexualmoral, fehlende Geschlechtergerechtigkeit − die Liste des Machtmissbrauchs in der katholischen Kirche ist lang. Im Kontrast dazu steht das von Jesus Christus verkündete Reich Gottes. In diesem Spannungsfeld hat sich am 21. November die Vortragsreihe „Forum an der Piusallee“ der Katholischen Hochschule (KatHO) NRW, Abteilung Münster, bewegt. Unter dem Thema „Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt in der Katholischen Kirche und die Botschaft Jesu“ analysierte und diskutierte Professor Ansgar Wucherpfennig, Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt und Neutestamentler, mit mehr als 90 Teilnehmerinnen und Teilnehmern die systemischen Ursachen des Machtmissbrauchs in der katholischen Kirche.

Hinter einem runden weißen Stehtisch, auf dem papiere liegen, stehen (von links) Ansgar Wucherpfennig, Andrea Tafferner und Peter Berker (KatHO).

Sie diskutierten die nötigen Konsequenzen aus den Fällen des sexuellen Missbrauchs (von links) Ansgar Wucherpfennig, Andrea Tafferner und Peter Berker (KatHO).

© Bistum Münster

„Ich bin entsetzt über das Versagen auf der Leitungsebene der katholischen Kirche“, sagte Andrea Tafferner, Theologie-Professorin an der KatHO, zu Beginn des Abends. „Täglich tauchen neue Fälle sexualisierter Gewalt von Priestern an Kindern auf, die vertuscht worden sind.“ Diese Verbrechen widersprächen der Botschaft Jesu.

„Bahnfahrer haben auch eine hohe Frustrationstoleranz, nicht nur Christinnen und Christen“, sagte Wucherpfennig zu Beginn – er kam mit zweistündiger Verspätung in Münster an. Der Professor für die wissenschaftliche Auslegung des Neuen Testaments nahm die Anwesenden mit in eine Bibelstunde, ausgehend von der Stelle im Markus-Evangelium: „Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zu Fall bringt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde“ (Mk 9, 42). „Das ist eine der schärfsten Strafandrohungen im Neuen Testament“, erklärte er, „Jesus warnt alle potenziellen Gewalttäter, Kinder zu verletzen.“

Mit dieser Auslegung widersprach Wucherpfennig der des emeritierten Papstes Benedikt XVI., der zur Missbrauchskrise geschrieben hatte, dass „Jesus den kleinen Glauben der einfachen Menschen“ schütze: „Dieses Wort spricht in seinem ursprünglichen Sinn nicht von sexueller Verführung von Kindern.“ Der Ursinn des Wortes sei nicht so klar, wie Benedikt es vorgebe. „Jesus hat die Kinder unter besonderen Schutz gestellt. Das war vor allem in der griechischen Diaspora wichtig, in der sexuelle Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern an der Tagesordnung waren“, sagte Wucherpfennig. Das Neue Testament überwinde solche patriarchalen Strukturen und setzte sich für die körperliche und seelische Unversehrtheit der Kinder ein.

„Sexualisierte Gewalt ist Ausnutzung von Macht“, erklärte Wucherpfennig in der anschließenden Diskussionsrunde. Er sprach sich deutlich für Reformen in der Kirche aus und machte systemische Ursachen wie Klerikalismus und fehlende Gewaltenteilung als Ursachen sexualisierter Gewalt aus: „Die enge Sexualmoral, der Ausschluss von Frauen aus dem Weiheamt, das überhöhte Priesterbild: Das gilt es anzugehen. Und die Bischöfe könnten sofort die Gewaltenteilung einführen. Dazu braucht es nicht den Vatikan.“ Er hofft, dass der „Synodale Weg“ in diese Richtung entscheiden werde.

„Es braucht einen Neustart der Sexualmoral der Kirche“, verlangte der Neutestamentler, „in die biblische Grundlagen, die kirchliche Tradition, die Erfahrungswerte von heute und wissenschaftliche Erkenntnisse mit einfließen.“ Inzwischen hätten Viele das Vertrauen verloren, dass Kirche ihnen noch etwas in Sachen Sex und Liebe zu sagen habe. „Die Kirche muss wieder zu einem Ort werden, in dem amoris laetitia (,die Freude der Liebe‘) erfahrbar wird“, forderte er am Ende des Abends.

Jürgen Flatken