Lütge: „Lockdown war falsche Entscheidung“

, Bistum Münster

Der Wirtschaftsethiker Professor Dr. Christoph Lütge hält den Lockdown im Zuge der Corona-Krise für falsch. „Die Politik hat hier falsch entschieden. Das ist ein deutliches Zeichen dafür, dass sie der Bevölkerung nicht vertraut“, kritisierte der Leiter des Münchener Instituts für Ethik in der Künstlichen Intelligenz am 12. Mai. Lütge diskutierte in Münster mit der Juristin und Philosophin Professorin Dr. Frauke Rostalski über Exit-Strategien des Corona-Lockdowns aus ethischer Sicht. Rostalski ist Direktorin des Instituts für Straf- und Strafprozessrecht der Universität Köln. Ende April wurde die 35-Jährige als jüngstes Mitglied in den neu besetzten Deutschen Ethikrat berufen.

Moderiert von Dr. Martin Dabrowski (links) und Dr. Frank Meier-Hamidi (Bild oben links) von der Akademie Franz Hitze Haus diskutierten der Wirtschaftsethiker Christoph Lütge (oben rechts) und die Rechtsphilosophin Frauke Rostalski (unten) über ethisch begründete Exit-Strategien in der Corona-Krise.

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Aus Sicht der beiden Ethiker greifen viele der Anti-Corona-Maßnahmen tief in die Grundrechte der Menschen ein. Längst seien Folgeschäden sicher. „Es wird eine Wirtschaftskrise geben“, erklärte Lütge. Man könne die Wirtschaft schnell ausschalten, aber bei weitem nicht so schnell wieder beleben. Zwar könne die Produktion wieder hochgefahren werden, doch werde die Krise auch Auswirkungen auf den Konsum haben: „Die Menschen müssen wieder Vertrauen in die Zukunft gewinnen, das kostet Zeit“, betonte Lütge. Die Maskenpflicht in Geschäften bezeichnete er als „Killer“. Eine solche Pflicht sei ethisch nicht vertretbar und führe zu Aggressionen.

Traurig sei außerdem die Erkenntnis der vergangenen Wochen, dass Eltern und Kinder in Deutschland kaum eine Lobby hätten. „Es kann nicht sein, dass die gesamte Last der Krise auf die Familien übertragen wird, hier sind falsche Entscheidungen getroffen worden“, bemängelte der Wirtschaftsethiker mit Blick auf die teilweise andauernden Schließungen von Kitas und Schulen. In diesem Zusammenhang plädierte Lütge für einen internationalen Blick in der Krise. Zahlen aus beispielsweise skandinavischen Ländern, in denen Betreuungs- und Bildungseinrichtungen geöffnet geblieben wären, hätten gezeigt, dass Kinder und Jugendliche nicht maßgeblich zum Infektionsgeschehen beitragen. „Es gibt auch bei uns keinen Grund, Kitas und Grundschulen weiter geschlossen zu halten“, äußerte sich Lütge.

Der Wirtschaftsethiker warnte davor, dass die freiheitliche Gesellschaft durch die Maßnahmen „einen massiven Schaden“ nehmen kann. „Im Moment müssen wir uns jedes Stück Freiheitsgrundrecht wieder erkämpfen.“ Einen Weg aus der Krise gebe es nur durch ein verantwortungsvolles und interdisziplinäres Abwägen.

Dafür sprach sich auch Frauke Rostalski aus. „Wir müssen offen bleiben in der Diskussion“, mahnte die Rechtsphilosophin. „Es geht um Freiheitsrechte und darum, in welcher Gesellschaft wir miteinander leben wollen. Das ist es wert, sich damit zu beschäftigen.“ Aus philosophischer Sicht sei das Leben nicht abwägungsfest, es werde immer ins Verhältnis gesetzt zu anderen Gütern, erklärte Rostalski. In einer Pandemie müssten darum permanent die Gefahren, die Schädigungsmöglichkeiten für die betroffenen Rechtsgüter abgewogen werden. Dabei spiele das Risiko für das Leben eine Rolle, aber auch das Gewicht der Eingriffe in andere Freiheitsinteressen. „Da hat vor allem die Dauer dieser Einschränkungen eine Bedeutung“, verdeutlichte sie. In der Folge könnten Gefahren für das Leben durch andere Interessen überwogen werden, so dass bestimmte Freiheitseinschnitte nicht länger bestehen bleiben dürfen. 

Rostalski unterstrich, dass Verständnis der einzige Weg zur Solidarität sei. „Ich halte es für wichtig, dass wir während der Pandemie fortlaufend darüber nachdenken und sprechen.“ Das müsse auf der Basis guter Gründe und damit unter Einbeziehung sämtlicher relevanter gesellschaftlicher Interessen geschehen. „Wir dürfen nicht in einem Status Quo verharren, der unter Umständen nicht der gewohnten Güterinteressen und -abwägung entspricht und damit Freiheitsinteresse zu stark einschränkt.“

Einig waren sich die Ethiker mit Blick auf die Bedeutung der erwarteten Corona-Tracing-App. Diese wird derzeit entwickelt und soll potenziell Infizierte frühzeitig warnen, sodass sie sich selbst isolieren und testen lassen können. „Die App wird uns bei der Bekämpfung des Virus wenig helfen“, sagte Lütge. Rund 80 Prozent der Bevölkerung müssten die App verwenden, um eine flächendeckende Eindämmung zu erzielen. „Das ist nicht realistisch.“ Rostalski bezeichnete die App als „erheblich eingriffsintensiv“. „Wir müssen nicht nur darüber sprechen, ob wir das können, sondern ob wir das auch wollen.“ Der Prozess müsse unbedingt von Ethikern begleitet werden.

Ann-Christin Ladermann