Luise steht auf einer kleinen Lichtung inmitten von Fichten. Der Blick der Neunjährigen geht nach oben. „Ich kann mich selbst sehen“, ruft sie und zeigt auf die goldfarbenen Spiegelsterne, die oben in den Baumkronen hängen. Fest auf dem Boden stehen und trotzdem das Gefühl haben, bis in die Baumspitzen und darüber hinaus zu wachsen. Das fühlt die Schülerin aus Telgte an dieser Station, ihrer Lieblingsstation auf dem Kinder-Pilger-Weg, den sie mitentwickelt hat und der ab sofort von Familien, Erstkommunion-Gruppen oder Schulklassen besucht werden kann.
Ein halbes Jahr lang hat sich der Kinder-Pilger-Club, bestehend aus sieben Mädchen und Jungen, zusammen mit Kreativ-Coach und Künstlerin Petra Maria Wewering sowie Propst Michael Langenfeld und Pilger-Seelsorger Richard Schu-Schätter Gedanken gemacht, wie ein Pilgerweg von und für Kinder aussehen kann. Schließlich ist der Wohnort der Mädchen und Jungen ein besonderer: „Telgte ist ein großer Wallfahrtsort, hier kommen jedes Jahr viele Menschen hin“, weiß die neunjährige Clara.
Als Petra Maria Wewering Ende 2019 nach Telgte zog und Kontakte zur Propsteigemeinde knüpfte, erfuhr sie vom umfangreichen Wallfahrtsprogramm – und von den wenigen Angeboten für Kinder in diesem Bereich. Beim Propst lief sie mit ihrer Motivation, dies zu ändern, offene Türen ein. „Für uns war schnell klar, dass wir nicht nur eine Veranstaltung, sondern etwas Bleibendes entwickeln möchten“, blickt sie zurück. Auf einen Aufruf zur Gründung eines Kinder-Pilger-Clubs meldeten sich sieben Kinder. Zwei Stunden pro Wochen trafen sie sich fortan, um einen Pilgerweg passend zum diesjährigen Wallfahrtsmotto „Himmel + Erde berühren“ für Kinder und Familien zu entwickeln.
Clara (9): "Rennen nicht nicht Pilgern"
Wie fängt man da an? „Wir haben erstmal ausprobiert, wie man überhaupt pilgert“, erinnert sich Bent ebenfalls Mitglied im Kinder-Pilger-Club. „Rennen ist nicht Pilgern und hüpfen ist auch nicht Pilgern, sondern ein langsames Gehen“, fasst Clara die Ergebnisse der Übung zusammen. Auf spielerische Art und Weise klärten Petra Maria Wewering und die Mädchen und Jungen Fragen wie „Können Bäume eigentlich auch beten?“ und „Was und wo ist der Himmel?“. Die Künstlerin, die viel Erfahrung in der Arbeit mit Kindern hat, hat von dem Projekt viel mitgenommen: „Bei Kindern läuft viel über die Gefühlsebene und die Raumerfahrung, dadurch habe auch ich als Künstlerin immer wieder einen neuen Blick auf die Dinge bekommen“, ist sie dankbar.
Zwölf Stationen sind entstanden, jede markiert durch eine Holz-Stele, die oben einen goldenen Stern trägt und eine farbige Plexiglasscheibe einfasst. „Die farbigen Scheiben entfalten ihre Leuchtkraft ähnlich wie Kirchenfenster erst, wenn man durch sie hindurch schaut“, erklärt Petra Maria Wewering, dass sich je nach Farbe auch der Eindruck der Landschaft dahinter verändert, mal „sonniger, leichter, ruhiger oder bewegter“. Über einen QR-Code auf jeder Station kommen die jungen Besucherinnen und Besucher auf zusätzliches Material im Internet, wo die Mädchen und Jungen ihre Gedanken zur Station als Audiodatei aufgesprochen haben.
Vor dem Religio-Museum hinter der Gnadenkapelle beginnt der Kinder-Pilger-Weg. Genauer gesagt bei König Melchior, der Bronzeskulptur mit der Schatzkiste in den Händen. „Er ist so groß, dass seine Krone schon fast den Himmel berührt“, finden die Kinder. Dort bekommen die jungen Pilgerinnen und Pilger auch den Kinder-Pilger-Pass, den die sieben Mädchen und Jungen erstellt haben.
Gefühle sortieren am Regenbogenspiel
Viel gibt es auf dem gut einen Kilometer langen Rundweg, dessen Strecke der des Bücker-Kreuzweges ähnelt, zu entdecken. So sind die Kinder eingeladen, sich mit Hilfe von Barfußplatten Gedanken über das Thema Heimat zu machen, am neuen Regenbogenspiel können sie ihre Gefühle anhand von Farben und Begriffen sortieren und an der Weggabelung halten die Kinder vom Kinder-Pilger-Club Entscheidungshilfen bereit. Auch für den Umgang mit der Kreuzwegstation „Weinende Frauen“ haben die Kinder eine Idee entwickelt. „Hier muss man etwas neugierig und auch mutig sein“, findet Nils.
Zu den Lieblingsplätzen der meisten Kinder zählt die Himmelsleiter – die Station, wo sich Himmel und Erde auch optisch miteinander verbinden. Die lange Leiter aus Naturästen hoch oben im Baum kann zwar aus Sicherheitsgründen nicht mit den Füßen, wohl aber mit dem Blick bestiegen werden. „Wenn ich darunter stehe und bis oben zur Spitze gucke, fühle ich mich richtig frei“, beschreibt Luise das Gefühl. An der St.-Marien-Kirche wartet auf die Kinder schließlich ein eigener Kinder-Pilger-Weg-Stempel für ihren Pass, bevor der Weg in der Gnadenkapelle, dem Ort des Gebets, endet. „Hier können sie eine Kerze entzünden und das vom Kinder-Pilger-Club selbst geschriebene Kinder-Pilger-Gebet mitnehmen“, sagt Petra Maria Wewering.
Propst Langenfeld: "Von den Kindern können wir Erwachsene noch viel lernen"
Perspektivisch soll der Kinder-Pilger-Weg in den kommenden Jahren jeweils an das aktuelle Wallfahrtsmotto angepasst werden. „Das Grundgerüst mit den Stelen und dem Kinder-Pilger-Pass wird aber bestehen bleiben“, kündigt Propst Langenfeld an. Er sieht das neue Angebot für Kinder und Familien als große Bereicherung für den Wallfahrtsort an: „Kinder setzen nicht nur ihren Kopf ein, sondern auch den Körper und Geist, da können auch wir Erwachsene noch viel von lernen“, freut er sich über das Engagement der jungen Telgterinnen und Telgter. Und er hat eine Hoffnung: „Vielleicht wachsen die Kinder auf diese Weise in eine Art Gastgeber-Rolle hinein und identifizieren sich so nicht nur mit der Stadt, sondern auch mit dem Wallfahrtsort Telgte.“