Erstmals seit 2014 präsentiert der ehemalige Hochaltar zum Domjubiläum wieder den Glanz der Heiligen
Von Dr. Klaus Winterkamp
Ein ebenso geistig-geistlich wie kunsthistorisch einzigartiges Ereignis erwartet die Pilger und Besucher des Jubiläums der 800-jährigen Grundsteinlegung im Westwerk des St.-Paulus-Domes. Erstmals seit 2014 präsentiert sich der Reliquien- und Domschatz wieder in dem dafür 1622 geschaffenen Hochaltar von Gerhard Gröninger. Vor 2014 war der Altar in dieser Gestalt zuletzt vor dem II. Weltkrieg zu sehen. Fotos vom Anfang des 20. Jh. belegen, dass der damals im Hochchor des Domes platzierte Altar noch wie selbstverständlich den gesamten Reliquienschatz enthielt, der in seiner Pracht an Feiertagen durch den Glanz zahlreicher Silberleuchter, des barocken Expositoriums für die 1923 entwendete goldene Sonnenmonstranz und des Fürstenbergschen Hochaltarkreuzes nahezu verstellt wurde. Bekleidet war der Altar zu solchen Anlässen mit dem reich bestickten Altarvorsatz (Antependium) von 1681, der Motive der Lauretanischen Litanei zeigt und sich mittlerweile wieder im Unterbau des Altares befindet.
Der Altar ist 1619 vom Domkapitel bei Gerhard Gröninger mit dem Zweck in Auftrag gegeben worden, den gesamten Reliquienschatz des Paulus-Domes aufnehmen, verwahren und zur Schau stellen zu können. Der 1582 in Paderborn geborene Bildhauer, der sich 1609 nach seiner Wanderschaft als Bürger der Stadt in Münster niederließ, stand damals am Beginn seiner bedeutendsten Schaffensperiode. Er lieferte für den neuen Hochaltar verschiedene Entwürfe ab, in denen der mittlere Altaraufbau (Retabel) als steinerner Reliquienschrein konzipiert war. Für die Gestaltung der Altarflügel verhandelte der Bildhauer im August 1619 auch mit Peter Paul Rubens. Den Auftrag für die sechs Tafelgemälde der Altarflügel erhielt dann allerdings der Amsterdamer Maler Adrian van Bogart, dessen Angebot nicht nur um ein Drittel niedriger lag als das Rubensche, sondern obendrein noch heruntergehandelt wurde! Was hätte sein können, hätte sich der damalige Auftraggeber nicht für die günstige Variante entschieden…
Im gänzlich geschlossenen Zustand – während der Advent- und Fastenzeit etwa – zeigt die Ansicht des ehemaligen Hochaltares auf den Außenflügeln verschiedene Heilungen, die durch Paulus bewirkt wurden. In aufgeklappter Form stellt der linke Flügel dar, wie Paulus auf Malta den erkrankten Vater des Gutsbesitzers Publius heilt. Auf dem rechten Flügel wollen die Einwohner von Lystra den Aposteln Paulus und Barnabas Opfergaben darbringen. Der zentrale marmorne Reliquienschrein wird von einem Flügelpaar verdeckt, das auf seinen Außenseiten zum einen die Bekehrung des Christenverfolgers Saulus, zum anderen die Enthauptung des Apostels in flacher Reliefschnitzerei zeigt. Gröninger selbst hat sie ausgeführt. Die Innenseiten bieten die gleichen Szenen als Gemälde. So werden auch anlässlich des Domjubiläums die beiden zentralen Ereignisse aus dem Leben des Dom-, Bistums- und Stadtpatrons die Präsentation des Reliquienschatzes im Mittelteil des Altars flankieren
Für den Marmorschrein zur Aufnahme des Reliquien- und Domschatzes sahen Gröningers Entwurfszeichnungen von Anfang an eine viergeschossige Gliederung vor. Dahinter steht ein theologisches Programm, das auch bei der Präsentation zum kommenden Domweihjubiläum Geltung hat. Von oben nach unten versuchen die Gefäße, Figuren und Behälter in ihrer Ordnung den Verlauf der Heilsgeschichte abzubilden. Sie ist nach christlicher Überzeugung in und wider allem Auf und Ab eine zutiefst weltliche Geschichte, die von der Schöpfung bis zur Vollendung der Welt ebenso tief von der Heilsgegenwart Gottes durchdrungen ist.
Dementsprechend thematisiert die oberste Sockelreihe die Zeit der Prophetie durch die zwischen 1380 und 1390 geschaffenen 14 Büsten biblischer und jüdischer Patriarchen, Könige und Propheten. Nach biblischem Zeugnis hielten sie die Hoffnung auf Gottes Lenkung der Geschichte und die Erwartung seines Heils wach. Die beiden mittleren Reihen, in denen sowohl die gotischen Apostelfiguren aus dem 14. Jh. als auch die thronende Gottesmutter aus dem 13. Jh. und das Reliquienkreuz vom Anfang des 12. Jh. ihren Platz finden, markieren die mit der göttlichen Sendung Jesu Christi angebrochene „Fülle der Zeiten“ – wie es im Vierten Hochgebet der Messfeier heißt – oder auch die Mitte der Zeit. Wie im barocken Vorgängeraltar haben die Reliquienstatuetten der Apostel seit 1956 auch im heutigen Hochaltar des Domes im zentralen Ort des liturgischen Lebens der Kathedrale ihren Platz gefunden. Die untere Reihe schließlich, in der mit Paulus angefangen die Reliquiare zahlreicher Heiliger auch aus der Geschichte des Bistums Münster angeordnet sind, thematisiert die Zeit des christlichen Lebens und Zeugnisses – jene Zeit also, die nach christlich-theologischer Auffassung bis zur Wiederkunft Jesu Christi währt. Insgesamt werden über 57 kostbare Reliquiengefäße aus Romanik, Gotik und Barock auf dem ehemaligen Hochaltar zu sehen sein.
Der dunkelrote und schwarze Marmor des Paulusaltars hebt sich deutlich vor dem hellen Sandstein des Westwerks ab.
Nur zu gut, dass sich Gröninger dem Domkapitel gegenüber mit dem Vorschlag durchsetzen konnte, statt Sandstein vor allem schwarzen und dunkelroten Marmor für den zentralen Altaraufbau zu verwenden. Bis heute heben sich die goldenen und silbernen Reliquiengefäße vor diesem Hintergrund besonders kontrastreich ab. Die Öffnung der beiden mittleren Flügel an Feiertagen oder zu besonderen Anlässen ermöglichte bis zu Beginn des II. Weltkrieges eine eindrucks- und effektvolle Präsentation des Reliquien- und Domschatzes.
Die heilsgeschichtlich orientierte Ordnung der Reliquiare macht bis heute deutlich, dass sie in früheren Zeiten nicht zunächst nach ihrem kunsthistorischen, schon gar nicht nach ihrem materiellen Wert, sondern als Heil- und Heiligtümer betrachtet wurden. Sie haben in erster Linie einen sakralen Wert, der sich von der immensen Bedeutung der Heiligen in der Vorstellungswelt unserer gläubigen Vorfahren her erklärt. Danach kam den Heiligen das Privileg zu, sofort nach ihrem Tod in den Himmel einzugehen. Im himmlischen Glanz und Licht lebend, wurden ihnen Einflussmöglichkeiten auf irdische Vorgänge zugeschrieben und deshalb ihre Fürsprache erbeten. Aus der Überzeugung, dass in der Gegenwart sterblicher oder sonstiger Überreste eines Heiligen der Himmel offensteht, wurden ihre Reliquien geehrt und in kostbaren Gefäßen aufbewahrt – „da berühren sich Himmel und Erde“ ließe sich mit dem Text eines zeitgenössischen Liedes formulieren.
So erklärt sich, warum für ihre Reliquiare nur die edelsten Materialien verwendet wurden. Die irdische Pracht aus Gold, Silber, Edelsteinen und Kristall versinnbildlicht vor allem den himmlischen Glanz, in dem die Heiligen leben. Kostbarer als alle kunstvollen Gefäße und kostbarer als das in ihnen Aufbewahrte oder Verehrte ist das, was in ihnen zum Vorschein kommen soll: das himmlische Jerusalem, in dem die Gemeinschaft der Heiligen zu Hause ist. Dessen Glanz sinnenfällig darzustellen, macht die sakrale Bedeutung der Reliquiare aus. Die Materialien werden zum Ausdruck der Gottesstadt, deren Licht und Glanz in ihnen dennoch nur als Abbild und hoffnungsvoller Verweis zum Vorschein kommt.
Das himmlische Jerusalem ist einerseits Bild für die endgültige Vollendung der Welt und aller menschlichen Geschichte. Es ist andererseits Bild für die aktuell versammelte Gemeinschaft der Gläubigen, die sich in der Feier des Gottesdienstes jetzt schon des endgültigen Heils vergewissert. Indem der aufgeklappte Hochaltar des Domes über den Blick auf die zahlreichen Reliquiare hinaus die Perspektive auf die Gemeinschaft der Heiligen im himmlischen Jerusalem freigibt, macht er sichtbar, was Kirche eigentlich ist: Gemeinschaft der Heiligen. Präsentiert auf dem Altar, an dem – vereinzelt auch heute noch – die Eucharistie gefeiert und – nahezu täglich – die Vesper gebetet wird, stellen die Reliquiare mit den sterblichen Überresten der Heiligen vor Augen: die Gemeinschaft am Heiligen schafft die Gemeinschaft der Heiligen – nicht erst im himmlischen Jerusalem, sondern mitten in dieser Welt.
Rund um diesen Altar spielt sich ausdrucksstark ab, was Kirche von ihrem Wesen her ist: eine Gemeinschaft von Menschen, die ihre Heiligkeit nicht einer frommen oder moralisch einwandfreien Lebensführung zuschreiben kann, sondern allein dem Gott verdankt, den sie im Gottesdienst in ihrer Mitte weiß und dient. Heiligkeit ist Anteilhabe am Heiligen, an Gott selbst. Kirche ist eben deshalb heilig, weil Gott ihr in der gottesdienstlichen Feier, besonders in der Eucharistie Gemeinschaft an seiner Heiligkeit schenkt. Und er will sie nicht nur für bestimmte, sondern für alle Menschen. Die Reliquien im Mittelschrein des aufgeklappten Hochaltares machen klar, dass Heilige sehr konkrete Menschen sind, keine überirdischen Figuren. Staub und Knochen zeigen knallhart: Heilige sind Menschen, die man anfassen kann; Menschen mit Haut und Haaren, Leib und Seele, Herz und Hirn, Sinn und Verstand – Menschen wie die Beter und Betrachter, die anlässlich des Domjubiläums vor diesen Altar treten.
Nachdem er das Paradies, die Vorhalle des Domes und die dortige porta coeli, die Pforte des Himmels unterhalb der figürlichen Darstellung Christi als Weltenrichter durchschritten hatte, war der gläubige Besucher früherer Zeiten endlich an sein Ziel gelangt: er hatte nicht einfach den Dom, sondern das himmlische Jerusalem, die Gottesstadt selbst betreten. An ihrem zentralen Ort präsentierte ihm der aufgeklappte Hochaltar dasselbe Bild, das er den Besuchern und Pilgern des Domjubiläums im Westchor bieten wird: die Gemeinschaft der Heiligen. Die damaligen wie die heutigen Pilger und Besucher dürfen sich angesichts des auf dem Hochaltar anschaulichen Reliquien- und Domschatzes mit dem Verfasser des Hebräerbriefes sagen lassen: „Ihr seid vielmehr zum Berg Zion hingetreten, zur Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, zu Tausenden von Engeln, zu einer festlichen Versammlung und zur Gemeinschaft der Erstgeborenen, die im Himmel verzeichnet sind; zu Gott, dem Richter aller, zu den Geistern der schon vollendeten Gerechten“ (Hebr 12, 22f.)
In diesem Sinne: Willkommen im himmlischen Jerusalem!
Donnerstag, 3. Juli, 12.15 Uhr: Messfeier mit feierlicher Präsentation des Paulusaltars Sonntag, 6. Juli, 17.15 Uhr: Feierliche Vesper im Hochchor des Doms zur Beendigung des Jubiläums
Kurzführungen zum Domschatz/Paulusaltar
Zu dem in den Paulusaltar eingeräumten Domschatz wird es von Freitag, 4. Juli bis Sonntag, 6. Juli im Halbstundentakt Kurzführungen geben. Eine Anmeldung hierzu ist nicht erforderlich. Interessierte werden im sogenannten „Paradies“ (Haupteingang des Doms) von Domführern (Cicerone) empfangen. Mit Hilfe großformatiger Abbildungen gibt es hier erste Erläuterungen. Im Westchor, wo sich der Paulusaltar befindet, findet der zweite Teil der Kurzführung vor den Objekten statt. An den Stufen zum Westchor wird eine Rollstuhlrampe installiert sein. Die Kurzführung dauert insgesamt ca. 20 Minuten. Treffpunkt ist jeweils zur halben bzw. vollen Stunde im Paradiesportal. Da Gottesdienstzeiten berücksichtigt werden müssen, finden die Kurzführungen in den folgenden Zeitfenstern statt.