Wenn es um sexualisierte Gewalt in der Kirche geht, werden meist Kleriker als Täter in den Blick genommen. Ein Diskussionsabend in der Landvolkshochschule (LVHS) in Freckenhorst hat am 5. September andere kirchliche Kontexte aufgegriffen, in denen Kinder und Jugendliche sexualisierte Gewalt erfahren können. Grundlage bildete eine zu Beginn des Jahres veröffentlichte Vorstudie zur sexualisierten Gewalt in den Jugendverbänden, die der Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) in Auftrag gegeben hatte. Auf Einladung der LVHS, des Katholischen Bildungsforums und des Kreisdekanates Warendorf stellten Hannah Esser und Dr. Bernd Christmann von der Universität Münster – beide hauptverantwortlich für die Vorstudie – diese vor und luden zum Austausch ein.
Die Studie nimmt den Zeitraum von 1945 bis 2021 in den Blick: Jugend- sowie Diözesanverbände des BDKJ wurden mittels eines Fragebogens zu bereits vorliegendem Wissen zu sexualisierter Gewalt innerhalb ihrer Strukturen befragt. 121 Rückmeldungen mit Wissen über Fälle sexualisierter Gewalt im Kontext der katholischen Jugendverbandsarbeit und des BDKJ gab es: „Das zeigt einen Bedarf an Forschung für weitere Analysen und Veränderungen von Strukturen, um junge Menschen vor sexualisierter Gewalt in Jugendverbandskontexten zu schützen“, erklärte Hannah Esser, die Details der Vorstudie vorstellte.
So waren überwiegend Jugendfreizeiten und Ferienlager die Tatorte, aber auch Jugendgruppen oder private Treffen seien angegeben worden. Der Großteil der berichteten Fälle stamme aus dem Zeitraum zwischen 2010 und 2022 (75 Fälle): „In dieser Zeit gab es allerdings auch schon eine erhöhte Sensibilisierung für die Thematik und damit auch eine bessere Dokumentationslage“, erklärte die Wissenschaftlerin die Ergebnisse. Neben sexualisierter Gewalt durch ehrenamtlich Tätige lägen auch Berichte über Fälle mittels digitaler Medien vor. „Fälle dieser Art fehlen bislang in den Gutachten zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche“, sagte Hannah Esser.
Welche Rolle haben Gemeinden und Verbände vor Ort im Aufarbeitungsprozess? Darauf ging Essers Kollege Bernd Christmann ein. „Es braucht grundsätzlich eine Offenheit und eine Sensibilität für die Thematik, aber auch eine kritische und freie Presse sowie Kommissionen“, nannte er gesellschaftliche Faktoren, die eine umfassende Aufarbeitung ermöglichen. Zu oft würde ausgeblendet, dass in pädagogischen Beziehungen Machtverhältnisse zum Alltag gehören, die das Potenzial bergen, dass Grenzen überschritten werden. Ein Lob sprach Christmann dem Bereich Prävention aus, in dem in den vergangenen Jahren besonders in der katholischen Kirche viel passiert sei. „Hier darf allerdings nicht der Eindruck entstehen, dass die Aufarbeitung ausgeblendet wird“, warnte er.
Mit den Institutionellen Schutzkonzepten (ISK), zu deren Erstellung das Bistum Münster alle Pfarreien und Einrichtungen verpflichtet hat, solle eine Haltungsänderung erzielt werden. Das betonte Beate Meintrup, Präventionsbeauftragte im Bistum Münster, bei der anschließenden Diskussion, moderiert von Kerstin Stegemann. „Wir hoffen auf eine bessere Professionalisierung in den Pfarreien und eine Sensibilisierung für unangemessenes Verhalten“, erklärte Beate Meintrup. Dass Letzteres Früchte trägt, verdeutlichte Bernd Christmann: „Nicht selten gibt es den Effekt, dass Fälle, die vorher nicht wahrgenommen wurden, zur Sprache kommen, wenn die Schutzkonzepte implementiert werden.“
In der Diskussion meldeten sich auch Betroffene zu Wort, die sexualisierte Gewalt durch Kleriker erfahren haben, und Kritik am Umgang der Bistumsleitung übten. „Aufarbeitung ist ein Begriff, hinter dem man vieles verdecken kann“, kritisierte ein Betroffener. Wenn beispielsweise Versprechen nicht eingehalten würden, seien die tatsächlichen Absichten zur Aufarbeitung fragwürdig. „Aufdeckung ist etwas Singuläres, Aufarbeitung etwas Dauerhaftes“, machte der Bocholter Pfarrer Rafael van Straelen deutlich.
Von kleinen Erfolgsschritten berichtete ein Mitglied der „Selbsthilfe Rhede“: 2018, als der erste Fall schweren Missbrauchs durch einen früheren Kleriker der Pfarrei bekannt geworden sei, habe Sprachlosigkeit geherrscht. Über die Jahre hätten Betroffene und Pfarrei den Kontakt gehalten, verschiedene Aktionen zur Aufarbeitung organisiert. „Als 2022 ein weiterer Fall öffentlich wurde, konnten wir zusammen darüber reden. Ich bin stolz, dass wir gemeinsam sprachfähig geworden sind“, betonte die Frau.