Bis zum Zweiten Weltkrieg waren die Reliquien der Märtyrer – die als Glaubenszeugen verehrt werden – Teil des Hochchores im Xantener Dom. Um sie vor Zerstörung während des Krieges zu schützen, wurden sie in Sicherheit gebracht. Dazu wurden die sogenannten Tableaus, auf denen die körperlichen Überreste befestigt sind, aus den Holzschreinen entnommen. Die am Ort verbliebenen Kästen wurden im Krieg bis auf wenige Reste zerstört und die Reliquien verschwanden weitgehend aus dem Gedächtnis der Gemeinde. Und das, obwohl der Name Xanten aus dem lateinischen Ausdruck „ad sanctos“ (deutsch „bei den Heiligen“) hervorgegangen ist.
Es waren „Puzzleteile“, denen sich vor einigen Jahren die Expertinnen und Experten der Kunstpflege des Bistums Münster gegenübersahen, wie deren Leiter Dr. Thomas Fusenig bei einem Treffen im Dom berichtet. Von den aus dem Mittelalter stammenden Holzschreinen waren nur kleine „Bretterhaufen“, wie Fusenig es ausdrückt, übrig und die Reliquien waren stark verstaubt. „Bei einer Inventarisierung wurde klar, dass erheblicher Restaurationsbedarf bestand“, erklärt Fusenig – eine Aufgabe, die in den Zuständigkeitsbereich der Kunstpflege gehört. In detektivischer Kleinstarbeit, teils mithilfe alter Fotos aus der Zeit um 1900, konnte einer dieser Reliquienkästen mit Hilfe der Werkstätten der LVR-Denkmalpflege nachgebaut werden. Sogar einige Originalteile aus dem Mittelalter fanden ihren ursprünglichen Platz zurück.
In Gesprächen mit dem Kirchenvorstand wurde entschieden, den restaurierten Reliquienschaukasten nebst der historischen Inschrift, die über die enthaltenen menschlichen Überreste Auskunft gibt, wieder im Hochchor aufzubauen. Seit einigen Tagen thront er nun über dem historischen Chorgestühl – und fällt wohl nur jenen auf, die gezielt Ausschau halten. Farblich zurückhaltend gestaltet, fügt sich der Kasten in das Gesamtbild des Domes ein. Um die Knochen zu erkennen, muss man schon genau hinschauen, so zurückhaltend sind sie in das Gesamtensemble eingebettet.
Propst Stefan Notz ist sichtlich bewegt: „Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg sind die Reliquien der Heiligen wieder da, wo sie hingehören“, sagt er. „Es geht bei Reliquien nicht um eine makabre Zurschaustellung menschlicher Knochen, sondern um eine würdige Präsentation, die die symbolische Bedeutung der Reliquien vermittelt“, betont er. Sie seien sichtbare Zeugen für Menschen, deren Glaube stark genug war, dass sie dafür in den Tod gingen.
„Es gibt durchaus eine Spannung zwischen christlicher Tradition und einer historisch-kritischen Betrachtung“, ergänzt Fusenig. Daher möchten er und die Verantwortlichen der Pfarrei die Aufstellung des Reliquiars auch als „Machbarkeitsstudie“ – übrigens vollständig finanziert aus Bistumsmitteln – verstanden wissen. „Die Gemeinde hat nun die Gelegenheit zu schauen, ob das Bild für sie so passt“, erklärt Fusenig. Denn ursprünglich habe es „ein Ensemble von europäischem Rang“ gegeben: Nicht nur auf einer der Chorschranken stand ein Reliquienkasten, sondern auf jeder. Das wäre auch jetzt wieder möglich, wenn die Gemeinde kein Veto einlegt. Daher sind alle Besucherinnen und Besucher des Domes, ob Gemeindemitglieder oder Touristen, eingeladen, an einer Umfrage teilzunehmen und ihre Meinung zu äußern. „Es gibt keinen Zeitdruck“, betont Fusenig, „wir möchten ein ehrliches Stimmungsbild bekommen und werden dann gemeinsam entscheiden, wie es weitergeht.“
Auch Propst Notz lädt zur Diskussion über den Reliquienschrein ein. Für ihn persönlich ist klar: „Die Reliquien gehörten schon immer zum Dom, auch im Viktor-Altar sind sie ausgestellt und in unserer Krypta verehren wir antike und moderne Märtyrer. Mit den Reliquienschreinen im Hochchor stehen die Männer mit dem Heiligen Viktor zusammen, die gemeinsam mit ihm in den Tod gegangen sind.“
Info
Die Reliquien im Xantener Dom gelten als die sterblichen Überreste der sogenannten Thebäischen Legion, einer römischen Einheit, deren Soldaten sich zum Christentum bekannten und der im 3. Und 4. Jahrhundert einsetzen Christenverfolgung zum Opfer fielen. Auch wenn in der modernen Wissenschaft angenommen wird, dass es sich dabei um eine mittelalterliche Legendenbildung handelt, stehen die Reliquien sinnbildlich für die Menschen, die während der Christenverfolgung den Tod fanden und die den Gläubigen bis in die heutige Zeit als Vorbilder dienen können.
Christian Breuer

