
Dr. Christine Walther
© PrivatDer liturgische Kalender der Fußball-Fans hat begonnen. Der Ball rollt wieder. Allerorten pilgern Fans in Kutten und ausgestattet mit Devotionalien zu ihren Fußballtempeln. Die Spieler laufen aus dem „Allerheiligsten“, der Umkleidekabine, feierlich ins Stadion ein, und Zigtausende huldigen ihnen mit choralen Gesängen. Sie jubeln, geraten in Ekstase oder schimpfen am Ende auf einen Fußball-Gott, wenn der den Ball ins falsche Tor gelenkt hat. Die Verführung ist groß, beides zu vermischen. Ist Fußball eine Religion?
Fußball kann vieles, was Religion und Kirche ebenfalls können: Gemeinschaft schaffen. Beide sind Bindemittel für eine Gesellschaft, die zu zerfasern droht. Ihnen gelingt Integration. In der Kirche wie im Fußballstadion finden Menschen zusammen, deren Lebensläufe unterschiedlicher nicht sein könnten, vereint in der Sache: im Sieg der Mannschaft oder im Sieg von Jesus Christus über den Tod.
Sehr wohl gibt es Unterschiede. Fußball ist für viele Lebensinhalt. Alles dreht sich um den Herzensverein: Termine werden für die Spiele verlegt, Fahrten zum Stadion organisiert, mit den Arbeitskollegen/innen unter der Woche gefachsimpelt. Doch wenn Fußballfans die Grenzen ihres Lebens erfahren, Leid oder sogar den Tod nahestehender Menschen erleben, rückt der Fußball in den Hintergrund. In der Not wenden sich manche Fußballbegeisterte dennoch an ihren Verein. Die meisten Clubs haben für solche Fälle Maßnahmen entwickelt: Sie richten aufmunternde Worte an die Hilfesuchenden oder organisieren Treffen mit Spielern oder Fußballfunktionären, um für Abwechslung zu sorgen.
Einige gehen einen entscheidenden Schritt weiter. Sie binden Kirche ein. Dort, wo ihre eigene Kompetenz endet. In den Stadien von Eintracht Frankfurt, Hertha BSC Berlin, dem VfL Wolfsburg und dem FC Schalke 04 finden sich sakrale Räume. Die christlichen Kirchen feiern dort Trauungen, Taufen, Gottesdienste oder Andachten. Seelsorger/innen kümmern sich um Menschen, die Trost suchen. Denn Religion und Kirche können, was der Fußball nicht vermag: Lebenssinn stiften. Aufzeigen, dass es etwas gibt, das größer ist als der Fußball. Sie bringen die Menschen mit Gott in Verbindung. Der Fußball kann uns nicht erlösen. Das vermag nur Gott.
Die Kapelle auf Schalke liegt im Untergeschoss des Stadions. Neben den Umkleiden und der Mixed Zone, wo nach dem Spiel die TV-Interviews geführt werden. Den Raum betritt man durch ein geöffnetes Kreuz, das als Objekt hinter der Eingangstür im Raum steht. Wer dieses Kreuz passiert, verspürt Eigenartiges. Er erfährt plötzlich Stille. Der Lärm, der Trubel, den ein Fußballstadion in sich birgt, verstummt, bleibt außen vor. Das mag an der Kargheit des Raumes liegen, der fast vollständig in Weiß gehalten ist, oder an der Beleuchtung, die keine Schatten wirft.
Vielleicht ist es auch das wandgroße Altarbild, das der Künstler Alexander Jokisch den Gästen zumutet. Es besteht aus unzähligen schwarzen und weißen Strichen. Sie kreuzen sich, laufen wild durcheinander, vereinen sich aber zu einer dunkleren und einer helleren Fläche im Inneren. Es erscheint wie ein Gleichnis: Das Leben kennt strahlende Siege wie auch tiefschwarze Niederlagen. Das Bild lädt ein, sich zu verorten. Wie geht es mir, wo stehe ich im Leben? Welcher Linie, welchem Weg folge ich? Lebenswichtige Fragen, auf die man auf den Rängen im lauten Stadion keine Antwort findet. Doch hier im sakralen Stadionraum eröffnet sich eine Möglichkeit: Ich kann mich von Gott berühren lassen, und das umgeben vom Liebsten im Leben – dem Fußball, meinem Verein. Eine gelungene Symbiose zweier Institutionen und letztlich Lebenswelten, die vieles trennt und die ebenso viel gemeinsam haben.
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