Heute lebt Nawras in Ahlen. Er sitzt im Büro seiner Pflegemutter Claudia Tennstedt, Schulleiterin der Bischöflichen Realschule in Warendorf, als er über seiner Flucht spricht. In Deutschland hat er seinen Realschulabschluss und das Fachabitur gemacht, eine Lehre abgeschlossen und arbeitet nun als Industriemechaniker, bald will er seinen Meister machen. In diesem Jahr hat er geheiratet. „Ich habe mir hier alles allein aufgebaut. Deutschland ist mein zu Hause“, sagt er.
Dabei wollte er eigentlich gar nicht nach Deutschland – wollte Syrien und seine Familie nicht verlassen. „Ich hatte ein gutes Leben dort“, betont er. Und das, obwohl er in einem Land lebte, in dem Krieg herrschte. „Irgendwann hätte ich töten müssen, oder wäre getötet worden.“ Darum hat seine Mutter für ihn entschieden, dass er Syrien verlassen und mit seinem Onkel nach Deutschland gehen soll. Die erste Zeit in einem fremden Land sei schwer gewesen. Er habe oft gedacht: „Was mache ich hier eigentlich?“ Damals lebte er mit 50 Erwachsenen in einem Raum. „Ich habe tagsüber geschlafen und war nachts wach und habe auf dem Handy gesurft“, erinnert er sich.
Mittlerweile leben auch seine Eltern in Deutschland – zwei Straßen von seiner Pflegefamilie entfernt. Als er bei der Familie Tennstedt einzog, war für ihn immer klar, dass er zu seiner leiblichen Familie ziehen würde, sobald diese in Deutschland war. Doch als es soweit war, änderte Nawras seine Meinung. „Ich hatte zu viel durchgemacht.“. Auch um die Beziehung zu seiner syrischen Familie zu schützen, blieb er bei seiner deutschen Familie wohnen. Dennoch ist er ein regelmäßiger Gast bei seinen Eltern. Heute lebt er mit seiner Frau zusammen und besucht seine beiden Eltern regelmäßig. „Sonntags bringt er mir Kaffee ans Bett“, erzählt Claudia Tennstedt über ihr Familienleben.
Tennstedt und Nawras haben sich in Ahlen an der Hauptschule kennengelernt. „Sie war die Frau, die mich von der guten Schule weggeholt hat“, schmunzelt der fast 25-Jährige. Er war anfangs auf dem Gymnasium, da es dort aber für ihn aufgrund seiner fehlenden Sprachkenntnisse schwierig war, holte Tennstedt – die die katholische Hauptschule in Ahlen damals kommissarisch mit der Konrektorin führte - ihn an ihre Schule. Sogar in den Ferien boten sie Deutschunterricht und Beschäftigungen für die Jugendlichen an, die nach Deutschland geflohen waren. Nawras lebte mittlerweile in einer Wohngruppe mit anderen Jugendlichen, hatte einen ersten Sprachkurs absolviert und erste kulturelle Erfahrungen gemacht – von der Mülltrennung bis zum Umgang mit Ampeln.
„Gott sei Dank wurde für mich die Entscheidung getroffen, dass ich nach Deutschland komme“, sagt Nawras heute. Von seinem Onkel hat er sich schon früh nach seiner Ankunft in Deutschland getrennt. Dieser hat seine Familie aufgesucht, die bereits in Deutschland lebte. Der damals 14-Jährige entschied sich, seinen Weg zu gehen. In der Schule hatte er erste Erfolgserlebnisse. Tennstedt und ihre Kolleginnen und Kollegen hatten Deutschunterricht am Nachmittag organisiert. Bald konnte er seine Hausaufgaben fehlerfrei erledigen.
Als seine Wohngruppe aufgelöst wurde, weil die andere alle volljährig waren, fragte Nawras Tennstedt, ob er bei ihr einziehen könne. Der Familienrat – Ehemann, Sohn und Tochter - stimmte zu und Nawras zog ein. Heute ist er Teil der Familie – nennt seine Pflegeeltern Mama und Papa und hat einen Bruder und eine Schwester dazugewonnen.
Lara Bergjohann
