Es ist längst ein festes Ritual: Der erste Weg von Christian Kammler, wenn er am Morgen die Gnadenkapelle im Wallfahrtsort Telgte aufschließt, führt zu den Kerzenständern. „Ich entzünde jeden Morgen eine Kerze, stellvertretend für alle Menschen, von denen ich weiß, dass sie gerade eine schwere Zeit durchmachen, dass sie Sorgen haben oder sie etwas beschäftigt.“ Es ist die erste von 300 Kerzen pro Tag – an einem normalen Wochentag in der Wallfahrtssaison. „An besonderen Tagen sind es auch gerne mal bis zu 1.000 Kerzen“, ergänzt der Telgter.
Seit 18 Jahren ist Kammler Sakristan in der Gnadenkapelle und der benachbarten St.-Clemenskirche und damit Experte in Sachen Kerzen. 95.502 Kerzen hat er im Jahr 2021 in die dafür vorgesehenen Ständer gelegt, 2022 waren es sogar 97.456. „In den vergangenen Jahren bewegen wir uns konstant um die 100.000-Marke“, überschlägt er die Zahlen der vergangenen Jahre. Für den 44-Jährigen weitaus mehr als die reine Bestellliste für den Großhändler: „Hinter jeder Kerze steckt eine persönliche Geschichte, ein Anliegen – von Freude über Dank bis Trauer ist oft alles dabei“, weiß er aus unzähligen Gesprächen mit Menschen, die eine Kerze entzündet haben.
Nicht selten wird Kammler angesprochen – im privaten Umfeld oder auf dem Kirchplatz –, manchmal sogar per Mail. „Ich werde gefragt, ob ich eine Kerze entzünden kann, zum Beispiel wenn die Tochter, der Sohn eine Prüfung schreibt oder die Mutter, der Vater, Oma oder Opa eine schwere Diagnose bekommen hat oder operiert werden muss“, erzählt Kammler. Eine besondere Anziehungskraft gehe vom Telgter Gnadenbild der Schmerzhaften Muttergottes aus. „Da ist Maria mit ihrem toten Sohn in den Armen, der man ihren Schmerz ansehen kann. Ein Schmerz, mit dem sich viele Menschen aufgrund von Schicksalsschlägen identifizieren können“, sagt der Sakristan.
Auch Karola Ross ist extra nach Telgte gekommen, um eine Kerze zu entzünden. Vor zehn Jahren erhielt die Hörstelerin die Diagnose einer seltenen, unheilbaren Krankheit. „Ich möchte mich bedanken, dass es mir heute relativ gut geht und ich gut eingestellt bin“, sagt Karola Ross, die mit ihrem Mann Norbert zusammen vor dem Kerzenständer steht. Er unterstützt seine Frau bei ihrem Wunsch, eine Kerze aus Dankbarkeit zu entzünden – verbunden mit der Bitte, dass es ihr noch lange gutgehen möge. Dieses Bedürfnis kennt auch Ruth Bröckelmann. Einmal pro Woche kommt sie in die Gnadenkapelle und entzündet Kerzen für ihre Familie. „Das beruhigt mich und gibt mir Kraft“, sagt sie. Doch nicht nur in Telgte, sondern in jeder Kirche brenne nach ihrem Besuch jeweils eine Kerze für jedes ihrer Kinder, für ihren Mann, ihren Neffen und sie selbst. „Das ist der richtige Ort dafür.“
Neben der Gnadenkapelle ist auch das separate Kerzenhaus, das 2020 im Zuge der Renovierung der Gnadenkapelle auf dem Kirchplatz errichtet wurde, eine Anlaufstelle zum Kerzen entzünden. „Wir brauchten einfach mehr Platz“, begründet Kammler das transparente, aus Glaswänden bestehende Häuschen. Die Gestaltung ist für ihn ein Zeichen: „Die Kerzen brennen nicht hinter irgendwelchen Mauern, sondern sind für jeden zu sehen – und sorgen besonders abends für eine schöne Atmosphäre auf dem Kapellenplatz.“
Die Gnadenkapelle in Telgte mit ihrer Möglichkeit, Kerzen zu entzünden, übt seit jeher eine Faszination auf Menschen allen Alters aus, die Erfahrung macht Kammler immer wieder. „Das beeindruckt mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich an einem Tag sowohl Kinder mit ihren Großeltern, aber auch Erwachsene und sogar Jugendliche sehe, wie sie Kerzen entzünden.“ Dass dieses Ritual nicht nur etwas mit Religiosität zu tun haben muss, ist dem Sakristan bewusst. „Trotzdem sei es wichtig und gut, dass die Menschen in Kirchen und Kapellen die Möglichkeit haben, Kerzen zu entzünden, findet er. „Diese wortlose Geste kann Trost in einem ruhigen Raum geben und für einen selbst in Situationen eine Hilfe sein, in denen Worte fehlen.“
Hintergrund Ob Schulen, Büchereien, Ferienfreizeiten, Sucht- und Schuldnerberatungen, Kindertageseinrichtungen, Hospize, Kulturveranstaltungen, Wohnen für Menschen mit Behinderungen… – die katholische Kirche im Bistum Münster hat zahlreiche Angebote, die von Menschen jeden Alters nachgefragt und genutzt werden. In vielen Feldern kirchlichen Engagements ist die Nachfrage im Jahr 2022 im Vergleich zum Vorjahr sogar gestiegen oder bleibt auf einem hohen Niveau stabil.