Wenn ein Kind mit chronischer Erkrankung oder Beeinträchtigung zur Welt kommt, dreht sich der Alltag in den Familien zum großen Teil um dieses Kind. Die Geschwisterkinder müssen dann oft zurückstecken. In aller Regel bekommen sie deutlich weniger elterliche Aufmerksamkeit. Gleichzeitig wachsen sie in ein altersmäßig überforderndes Verantwortungsgefühl hinein. Die Journalistin und Filmemacherin Tabea Hosche hat eine Tochter, die einen seltenen genetischen Defekt hat. Wir vom Kita-Aktionsprogramm haben uns mit ihr darüber unterhalten, wie Umas Erkrankung das Familienleben beeinflusst und wie die sich auf die zwei Geschwisterkinder auswirkt.
Kita-Aktionsprogramm: Was verbirgt sich hinter dem Begriff der Schattenkinder? Und was hat das Ganze mit dem Schatten zu tun?
Tabea Hosche: Der Begriff wird oft für die Geschwister von Kindern mit chronischer Erkrankung oder Beeinträchtigung verwendet und versucht zu beschreiben, dass Geschwisterkinder oft weniger Aufmerksamkeit und Zeit von ihren Eltern bekommen oder leichter mal aus dem Fokus geraten können. Und dies nicht – und das gilt es zu betonen – weil die Eltern die Bedürfnisse nicht sehen wollen, sondern weil ihre Kapazitäten erschöpft sind. Die Eltern agieren nicht selten an den Grenzen ihrer körperlichen und psychischen Belastbarkeit. Denn wir sprechen hier nicht von kurzen heftigen Krankheiten, die überstanden werden. Der Ausnahmezustand hält über Jahre an. Um im Bild zu sprechen: Hier wird ein Langstrecken-Marathon gerannt und es sind nicht selten die Geschwisterkinder, die mit ihren Bedürfnissen dabei auf der Strecke bleiben.
Sie haben drei Kinder. Das Älteste, Ihre Tochter Uma, hat einen Gendefekt. Wie äußerst sich ihre Beeinträchtigung?
Uma hat einen sehr seltenen genetischen Defekt, der noch nicht gut erforscht ist. Sie ist humorvoll, sehr kreativ und künstlerisch begabt, sie liebt Sonnenuntergänge und Pferde, genießt klare Strukturen und Routinen. Sie ist aber auch kognitiv beeinträchtigt und hat eine schwere Sprachentwicklungsstörung. Außerdem ist sie hochgradig schwerhörig. Ohne ihre Hörgeräte hört sie fast nichts. Sie hat Epilepsie, ist aber inzwischen gut eingestellt.
Was bedeutet das für Sie und für die zwei Geschwisterkinder?
Es hat eine ganze Weile gedauert, bis wir mit Umas Beeinträchtigung klarkamen und die neue Realität gut annehmen konnten – es war ein Prozess. Oft war ich überfordert und hatte das Gefühl, unter starkem Druck zu stehen, denn ich wollte nichts unversucht lassen, um sie zu fördern. Ihre drei Jahre jüngere Schwester Ebba wünschte sich irgendwann, selbst auch therapiebedürftig zu sein und so viel Aufmerksamkeit zu erhalten wie ihre größere Schwester. In der Hinsicht war sie sogar ein bisschen neidisch auf Uma.
Gab es auch Situationen, die Ebba überfordert haben?
Ebba hat als kleines Kind auch manches miterlebt, was ihr Sorgen gemacht oder sie verunsichert hat: wenn der Notarztwagen kommen musste beim epileptischen Anfall zum Beispiel. Sie hat sicherlich auch früher als andere Kinder eine größere Verantwortung übernommen. So hat sie oft für ihre größere Schwester gedolmetscht, wenn wir sie nicht verstanden haben. Faszinierenderweise hatte Ebba damit nie ein Problem.
Ebba musste schnell erwachsen werden…
Ja, sie ist in gewisser Hinsicht die ältere Schwester, obwohl sie ja drei Jahre jünger ist. Das hat sie schon früh selbst wahrgenommen und sich sehr darüber gewundert, weil sie es nicht einordnen konnte. Bis Geschwister verstehen, dass ihre Geschwister eine Beeinträchtigung haben und was das bedeutet, müssen sie ein gewisses Alter erreicht haben. Unser drittes Kind, Joseph, wächst selbstverständlicher und entspannter in die Situation hinein. Er ist neun Jahre jünger als Uma und hat die kräftezehrenden ersten Jahre nicht miterlebt. Aber er hat natürlich auch seine ganz eigenen Bedürfnisse.
Was ist für Sie die größte Herausforderung?
Diese unterschiedlichen Kinder alle gut im Blick zu behalten und ihnen das zu geben, was sie für eine gesunde Entwicklung brauchen, finde ich manchmal sehr herausfordernd. Ich sehe es als meine Aufgabe an, die beiden jüngeren Geschwister zu entlasten und zu ermutigen, ihre eigenen Wege zu gehen und sich nicht für ihre Schwester zuständig zu fühlen.
Was kann Familien wie Ihrer und insbesondere den Geschwisterkindern helfen?
Es ist sehr spannend, was die Studie „Aufwachsen als gesundes Geschwisterkind“, die 2019 im Springer-Verlag erschienen ist, herausgefunden hat. Es gibt ein Narrativ, welches einem immer wieder begegnet: Erwachsene Geschwister von Menschen mit Beeinträchtigung oder chronischer Krankheit entwickeln durch ihre Kindheitserfahrungen häufig ein sehr hohes Maß an Empathie, Sozialkompetenz und Verantwortlichkeit. Ausgestattet mit diesen positiven Eigenschaften ergreifen sie oft soziale Berufe, da sie ja im Prinzip geborene Expert*innen sind. Das stimmt sicherlich oft, aber es ist wichtig zu hinterfragen, ob es den erwachsenen Geschwistern damit tatsächlich gut geht.
Geht es ihnen damit gut?
Die Studie zeigt, dass Schwestern und Brüder von Menschen mit Beeinträchtigung oder chronischer Krankheit ein vergleichsweise hohes Risiko haben, Symptome von posttraumatischen Belastungsstörungen, Ängstlichkeit und Depression zu entwickeln. Der an der Studie beteiligte Psychologe Florian Schepper sagt dazu in einem Interview: „Gesunde Geschwister haben es schlicht mit mehr Problemen zu tun als ihre Altersgenossen. Sie müssen bereits als Kind mit vielfältigen Herausforderungen und auch mit mehr intensiven Gefühlen umgehen, mit denen der Eltern und den eigenen. Da ist Überforderung, da sind Schuldgefühle und da ist jede Menge Ambivalenz.“
Was rät der Psychologe?
Schepper betont, wie wichtig es ist, dass Geschwister sich von der Ursprungsfamilie lösen. Sie sollten dabei unterstützt werden, eigene Ziele zu entwickeln und zu verwirklichen. Da sie gelernt haben, sich zurückzunehmen, fällt ihnen das oft nicht leicht. Aber sie haben nicht die Verantwortung für das Familienglück und sollten nicht die Aufgabe bekommen, die Eltern zu entlasten oder etwas ausgleichen, sondern sie sollten darin unterstützt werden, sich frei zu fühlen. Wichtig erscheint mir auch, dass offen über ambivalente Gefühle geredet werden darf und den Geschwistern vermittelt wird, dass sie sich deshalb nicht schuldig fühlen brauchen. Denn nur dann können sie lernen, einen guten Umgang mit ihrer Lebenssituation zu finden.
Wie gehen Umas Geschwister mit diesem Rucksack um? Können Sie etwas tun, um ihnen ab und an die Leichtigkeit der Kindheit zurückzugeben?
Ebba hat zirka im Alter von sechs Jahren eine gewisse Aggressivität entwickelt und Uma oft aufgezogen, geärgert, sich über sie aufgeregt. Ich wünschte mir so sehr Harmonie zwischen den beiden, warb um Verständnis für Uma und erklärte Ebba, dass Uma nichts für ihre Beeinträchtigung kann. Es ist für mich dann eine entscheidende Erkenntnis gewesen, dass nicht Uma und Ebba ein Problem miteinander haben, sondern dass ich an meiner Beziehung zu meiner Tochter Ebba arbeiten kann und dies der Schlüssel ist. Geht es ihr besser in unserem Familiensystem, werden Ebba und Uma sich besser verstehen. Aha!
Welche Konsequenz haben Sie aus diesem Aha-Effekt gezogen?
Ich nehme mir viel mehr Raum für exklusive Ebba-Mama-Zeit. Wir machen Sport zusammen, waren schon zweimal zusammen in der Mutter-Kind-Kur. Wir teilen einfach viel mehr miteinander. Das tut mir gut, weil ich mehr von Ebba mitbekomme und mich gerne mit ihr austausche und es tut ihr gut, weil sie sich wertgeschätzt fühlt. Ich unterstütze Ebba und ihren jüngeren Bruder Joseph darin, ihre eigenen Wege zu gehen, Hobbies zu pflegen und Freunde zu treffen. Es gibt auch in vielen Gegenden Deutschlands Geschwistergruppen speziell für die Geschwisterkinder. Die machen eine ganz tolle Arbeit. Auch das kann den Kindern helfen, ihre eigene Situation besser zu verstehen und herauszufinden, was ihnen guttut. Ebba und Joseph besuchen regelmäßig solche Gruppen und profitieren sehr davon.
Und wo bleiben Sie? Wo kommen Sie und Ihr Partner vor?
Da hatte ich noch so eine superwichtige Erkenntnis: Ich muss und ich kann nicht alles lösen. Mein Mann und ich tun, was wir können, um alle Kinder im Blick zu haben, aber bestimmte Ambivalenzen werden bestehen bleiben, weil sie zu dieser Geschwisterbeziehung – neben ganz viel Bereicherndem und Schönen – auch dazu gehören. Und ich versuche, mir in meinem Alltag auch mal Ruhezeiten und Pausen zu gönnen – um mal abzuschalten von den Anforderungen durch Arbeit und Familie. Ich mache Sport, gehe mit Freundinnen essen, mit meiner besten Freundin fahre ich einmal im Jahr für ein Wochenende weg. Und auch mit meinem Mann gehe ich manchmal aus. Meine Eltern und Babysitterinnen unterstützen uns, damit so etwas möglich ist.
Gleichzeitig sind sie aber auch freiberuflich tätig. Ist das nicht eine zusätzliche Belastung?
Im Gegenteil. Meine freiberufliche Arbeit als Filmemacherin hat mir oft sehr geholfen, um den Alltag gut zu bewältigen. Das hört sich vielleicht paradox an, denn natürlich ist es anstrengend, Kinder und Beruf zu vereinbaren, aber die Arbeit gibt mir auch viel Energie. Denn erwerbstätig zu sein, bedeutet auch mal auf andere Gedanken zu kommen, unter Erwachsenen zu sein, andere Gespräche zu führen, sichtbare Ergebnisse der eigenen Tätigkeit zu sehen und nicht zuletzt an das alte Leben, das alte „Ich“ anknüpfen zu können.
Sie führen seit Jahren ein Familientagebuch, das Sie auch filmisch veröffentlichen. Ist das Ihre Art, mit Ihrer Situation umzugehen?
Ja, das kann man durchaus so sagen. Ich bin Filmemacherin und begleite normalerweise andere Menschen in besonderen Lebenslagen, oft auch über einen längeren Zeitraum hinweg. So wie andere vielleicht Tagebuch schreiben, lag für mich der Griff zur Kamera also näher. Zu Beginn habe ich nicht gefilmt, um daraus einen Film für die Öffentlichkeit zu machen. Ich wollte einfach festhalten, was uns widerfährt und wie wir damit umgehen.
Irgendwann habe ich mich entschieden, öffentlich zu zeigen, wie es uns mit unserer Tochter geht und das aus der Innenperspektive heraus. Dieser Ansatz unterscheidet sich von den meisten Filmen, die man sonst über Menschen mit Behinderung und ihre Familien sehen kann. Die kamen mir manchmal so einseitig vor – ich hatte das Gefühl, da hat schon jemand vorher gewusst, wie die Geschichte ausgehen soll. Ich habe unseren Alltag als sehr ambivalent erlebt und wollte gerne davon erzählen. Ungeschönt. Die Filme waren definitiv auch Teil meines persönlichen Verarbeitungsprozesses.