Stephan Orth: Schluss mit der Spalterei

, Bistum Münster

Themen gibt es viele, Meinungen noch mehr. Nicht immer werden sie sachlich vorgebracht und ausgetauscht. Und viel zu oft bestimmen Empörung, Negativität, Ich-Bezogenheit und gegenseitige Attacken die Diskussionen. „Die Montagsmeinung“, das Meinungsformat des Bistums Münster, soll hier ein anderes Zeichen setzen. Persönlichkeiten aus Gesellschaft und Kirche, die sich dem Bistum verbunden fühlen, setzen sich darin mit Themen auseinander, die für sie und andere relevant und aktuell sind. Die Autorinnen und Autoren lassen es aber nicht bei Klagen und Kritik. Sie haben vielmehr konstruktive Ideen und Lösungsansätze. Diese teilen sie mit uns an dieser Stelle alle 14 Tage montags.

In der heutigen Montagsmeinung, dem Meinungsformat des Bistums Münster, äußert sich Stephan Orth. Der 32-jährige Theologe, der regelmäßig Impulse auf „Kirche im WDR“ veröffentlicht, arbeitet als Schulseelsorger am Kardinal-von Galen-Gymnasium in Münster-Hiltrup. Er initiierte 2015 die Initiative ,Münster gegen Pegida‘ und war Vorstandssprecher der Grünen in Münster. Heute ist er parteilos.

Stephan Orth

© Bistum Münster

Die öffentliche Debatte gleicht zunehmend einem Tribunal: Entweder man gehört zu den Guten oder zu den Bösen. Für Grautöne bleibt kein Platz – gefährlich für unsere Demokratie.

Ein aktuelles Beispiel: Friedrich Merz. Liberal oder progressiv? Sicher nicht. Aber ein Nazi? Bitte was?! Sein 5-Punkte-Plan zur Migrationspolitik lässt sich kritisieren – einige Punkte könnten gegen Verfassungs- oder EU-Recht verstoßen. Doch ebenso klar ist: Eine große Mehrheit wünscht sich einen Kurswechsel, und die Union versucht, darauf zu reagieren. Sie grenzt sich dabei klar von der AfD ab. Gleichzeitig wird in Kauf genommen, dass diese dem Plan zustimmt. Das ist ein Tabu, ein „Dammbruch“, eine Schande – absolut. 

Aber zur Wahrheit gehört auch: Mit einer stabilen Regierung, kompromissfähigen demokratischen Parteien, weniger Stolz, wären wir aktuell in einer anderen Situation… Stattdessen Ampel-Aus und ununterbrochene Schuldzuweisungen von allen Seiten. Und eine Patt-Situation in der Gesellschaft und im Parlament.

Das führt zu politischem Stillstand. Und der stärkt jene, die die Demokratie infrage stellen. Gerade jetzt wäre ein parteiübergreifender Diskurs der Demokraten nötig, statt sich in ideologischen Grabenkämpfen zu verlieren. Stattdessen wieder Nazi-Vergleiche an allen Ecken und Enden. Sind solche Vergleiche nicht ihrerseits eine Relativierung der dunkelsten Vergangenheit unseres Landes? Bricht dadurch nicht auch ein „Damm“? Gewinnt die AfD so nicht sogar frustrierte konservative Wähler?

Besonders drastisch zeigt sich das in den USA: Nicht alle Trump-Wähler unterstützen seine Politik – viele fühlen sich schlicht nicht mehr vertreten. Doch statt sie zurückzugewinnen, pflegen die Demokraten eine moralische Überlegenheit. Das Ergebnis? „Die Demokraten haben eine sehr linke Politik als Fortschritt verkauft – und damit Rückschritt produziert“, sagt Elmar Theveßen im ZDF.

Diese Spaltung geht weit über die Migrationspolitik hinaus. Schnellurteile ersetzen immer häufiger gründliches Abwägen. Der Fall des Grünen-Politikers Stefan Gelbhaar zeigt das deutlich: Noch bevor Untersuchungen abgeschlossen waren, wurde er öffentlich vorverurteilt – allein aufgrund von Belästigungsvorwürfen. Rechtsstaatliche Prinzipien wie die Unschuldsvermutung? Fehlanzeige. Selbst als erste Anschuldigungen widerlegt wurden, hielt etwa die Chefin der Grünen Jugend an ihrer Position fest: In Parteien gelte die Unschuldsvermutung nicht. Emotionen ersetzen Fakten.

Dabei lebt Demokratie vom Ausgleich, nicht von Rechthaberei. Konservative Sichtweisen gehören genauso dazu wie progressive. Wer den anderen reflexhaft diffamiert – sei es mit Nazi-Vergleichen oder mit Vorwürfen einer angeblichen „woken Ökodiktatur“ links-grün-versiffter Gutmenschen –, befeuert nur den Extremismus, den er eigentlich bekämpfen will.

Was fehlt, ist Gelassenheit – die Fähigkeit, andere Meinungen auszuhalten. Doch das wird immer schwieriger, weil wir uns in Meinungsblasen zurückziehen und Andersdenkende nur noch als Feinde wahrnehmen. Wer Vielfalt und Toleranz hochhält, muss sie auch Andersdenkenden zugestehen – nicht nur Gleichgesinnten. 

Dasselbe gilt mit Blick auf Spaltung: Wer anderen Spaltung unterstellt, sollte Spaltung nicht vertiefen. Wer nur in Schubladen denkt, wer beleidigt, statt zu überzeugen, wem die respektvolle Auseinandersetzung egal ist, treibt Menschen nicht nur in Extreme, sondern entlarvt sich selbst als Populist. Natürlich rechtfertigt das nicht, die AfD oder etwa Trump zu wählen. Doch Empörung allein reicht nicht aus. Sie setzt ein Zeichen, holt aber niemanden zurück ins demokratische Spektrum.

Letztlich sind der „Dammbruch“ des 29. Januar und die damit verbundenen Reaktionen deshalb nur die Zuspitzung eines viel umfassenderen und gravierenden Problems unserer Demokratie. 

Gerade jetzt bräuchte es konkrete lagerübergreifende Initiativen, um Polarisierung abzubauen, den Wert von Kompromissen hochzuhalten und einen integrativen Dialog zu fördern – selbstverständlich auf Grundlage der Verfassung. Dazu gehört auch, sich aus der Empörungslogik der Algorithmen zu befreien und nicht immer sofort alles Mögliche zu (re)posten.

Das mit einer Initiative für Demokratie versuchen wir in Münster seit einem Jahr mit verschiedenen Parteien und Gruppen. Und wir sind beziehungsweise waren auf einem guten Weg. Jetzt zeichnet sich ab, dass erste Akteure sich aus dem Prozess zurückziehen könnten. Es wäre ein Trauerspiel.

Jella Haase sagte beim Deutschen Fernsehpreis: „Ich wünsche mir, dass Deutschland aufwacht.“ Das wünsche ich mir auch. Aber Aufwachen bedeutet nicht, sich moralisch über andere zu erheben. Es bedeutet, zu differenzieren, zu versöhnen, demokratische Lösungen zu suchen und Spaltung zu überwinden – bevor die Gesellschaft endgültig auseinanderfällt und die Demokratie zerbricht.

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