Falsch wäre es jetzt, Wählerinnen und Wählern der AfD politische Dummheit, moralisches Versagen oder mangelndes demokratisches Bewusstsein einfach vorzuwerfen. Und wohlfeil wäre es, sich der eigenen moralischen Überlegenheit dadurch zu vergewissern, dass man sich über die AfD-Wählerschaft empört. Von der Sache her ist es klar, die AfD ist aufgrund ihrer gefährlichen Vorstellungen von Volk, Dazugehörigkeit, Männlichkeit, Frausein, Kultur eine Bedrohung für die Demokratie, für die Menschenwürde und die Gültigkeit universaler Menschenrechte. Aber es geht nun um etwas anderes: Die beiden Kernfragen, die sich Christinnen und Christen als Bürgerinnen und Bürger, die für eine plurale, solidarische und demokratische Gesellschaft eintreten, stellen sollten, lautet: Was sind die offenbar millionenfach gemachten lebensgeschichtlichen Erfahrungen von Menschen in Ostdeutschland und in Westdeutschland, die dazu beitragen, AfD zu wählen? Und: Worüber haben wir als Gesellschaft, als marktwirtschaftliches System, als Sozialstaat und auch als Kirchen hinweggesehen, wo haben wir versagt?
Daran schließen sich weitere Fragen an: Wie stark haben Menschen in Ostdeutschland erfahren, dass sie in und nach der Wiedervereinigung dazugehören und nicht nur dazugekommen sind? Wie stark konnten Menschen den Prozess des Zusammenwachsens mitgestalten? Wenn sie es nicht konnten (aus welchen Gründen auch immer): Was wurde dann an die Kinder weitergeben an Erfahrungen mit „der Politik“ im vereinten Deutschland? Welche Möglichkeiten hatten und haben Menschen mit Identitätsrissen umzugehen, die sich individuell oder in der Familiengeschichte der Folgegenerationen zwischen DDR-Leben und BRD-Neubeginn bildeten?
Der jüdische Philosoph Ernst Bloch sprach 1931 in seiner Analyse des Nationalismus von der Gefahr der „unaufgearbeiteten Vergangenheit“ ganzer Bevölkerungsgruppen, was sie in die Hände Hitlers triebe. Es ging Bloch um die Menschen, die mit dem galoppierenden Kapitalismus (Bloch war Marxist) und der extremen kulturellen sowie politischen Dynamisierung der Weimarer Jahre entweder nicht Schritt halten konnten oder es nicht wollten. Heimat, Volk, Blut und Boden – das waren die Angebote, die Hitler in diese Situation hinein machte, und sie verfingen. Die Warnung Blochs meint heute auch: Wir müssen die gemachten Erfahrungen und die tatsächliche Bedürftigkeit, die sich hinter der Wahl einer völkisch-nationalistischen Partei verbergen, wahrnehmen, hören und zu verstehen suchen – und aus diesem Verstehen politische wie auch gesellschaftliche Antworten entwickeln. Eine erste Antwort könnte sein, dass Kirche, nachdem die Bischöfe sehr schnell und unerwartet klar gesagt haben, die AfD sei unwählbar, sich jetzt auch um die Verletzungs- und enttäuschten Hoffnungsgeschichten der Menschen kümmert, für die die AfD dann offenbar doch wählbar war und ist. Sich in diesen Widerspruch, sich in dieses schwierige Terrain hineinzubegeben - das wäre ein wichtiger Beitrag der Kirche zu einer funktionierenden Demokratie.