„Weltpolitisches Groß-Narrativ fehlt“

, Stadtdekanat Münster

Eine ernüchternde Einschätzung der Möglichkeit eines baldigen Endes des Ukraine-Kriegs und der Chance, einen Friedensschluss mit der Schaffung einer neuen und besseren Weltordnung zu verbinden, hat am 16. August Prof. Dr. Jürgen Osterhammel im St.-Paulus-Dom Münster abgegeben.

Der emeritierte Professor für neuere und neueste Geschichte aus Freiburg sprach im Rahmen der diesjährigen DomGedanken. Sie haben das Oberthema „Krieg! Und Frieden?“. In dem voll besetzten Gotteshaus führte Osterhammel seine Überlegungen unter dem Titel „Weltordnung und Friedensstiftung seit 1945. Thesen zur Zeitgeschichte“ aus. Nach der Begrüßung durch Dompropst Hans-Bernd Köppen stieg Osterhammel mit dem Zusammenhang zwischen den Begriffen Frieden und Friedensordnung ein. Krisen regten zum Nachdenken an, begründete er die Tatsache, dass große Friedensschlüsse oft die Bildung neuer internationaler Ordnungen beförderten. Dazu führte er sechs Thesen an.

„Weltordnungen entstehen nicht von selbst, sondern werden nach Kriegen planvoll gemacht. Allerdings führen Kriege nicht immer zu einer Friedensordnung“, formulierte Osterhammel seine erste These. Denn nach einem Krieg könne ein Konsensfrieden durch Verhandlungen oder ein imperialer Frieden durch das Gewaltmonopol eines mächtigen Hegemons entstehen. Weiter gebe es die Möglichkeiten, dass sich – wie im Kalten Krieg – ein Machtgleichgewicht zwischen militärisch ungefähr gleich starken Akteuren entwickele oder nach dem Ende des Konflikts kein Akteur stark genug sei, die Lage zu stabilisieren, sodass einfach nichts passiere. „Nicht aus jedem Chaos wird also schnell wieder Ordnung“, sagte Osterhammel.

Als zweite These ging er auf zwei Begriffe von Weltordnung ein, die den politischen Diskurs prägen: ein konservativ-defensiver und ein revisionistisch-offensiver Begriff. Ersterer verteidige die bewährte Ordnung mit dem Ziel einer friedlichen Koexistenz der Nationen. Letzterer hingegen stehe nicht für normative Regeln, sondern beziehe sich auf die realen weltweiten Kräfteverhältnisse. Insofern sehe der erste Begriff die Weltordnung als Regelordnung, der zweite als Machtordnung. „Ob der zweite Begriff so eindeutig mit Frieden verbunden ist wie der erste, lässt sich bezweifeln“, sagte Osterhammel.

Seine dritte These richtete den Blick auf die Entscheidungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals sei „zum bisher letzten Mal“ eine neue Weltordnung geschaffen worden. Deren Säulen seien die Beschlüsse der späteren Siegermächte auf den Konferenzen von Teheran, Jalta und Potsdam, die Gründung der Vereinten Nationen, die Leitlinien einer neuen Weltwirtschaftsordnung sowie die Rechtssetzung durch die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg und Tokio.

Allerdings habe die Wirklichkeit des Kalten Krieges die Neuordnung von 1945 überlagert. Hinzu gekommen seien die Nuklearbewaffnung und ehemalige Kolonien als neue Staaten. Im Ergebnis sei die Situation bis 1991, so Osterhammels vierte These, von der Spannung zwischen der 1945 angestrebten praktikablen Weltordnung und der Realität gekennzeichnet gewesen.

Daraus leitete der Historiker als fünfte These ab: „In den 90-er Jahren blieb die Chance einer globalen Neuordnung ungenutzt.“ Zwar habe bei Ende des Kalten Krieges die Welt anders als 1945 nicht in Trümmern gelegen und es kein Machtvakuum gegeben. Dennoch sei der Neuordnungsbedarf enorm gewesen. Leider hätten sich die USA auf die Marktkräfte verlassen, während Russland durch soziale und ökonomische Probleme in Anspruch genommen gewesen sei.

„Diese Unklarheit der tatsächlichen Weltordnung besteht bis heute“, sagte Osterhammel. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sei eher eine Zeit der Waffenstillstände als der Neuordnung gewesen: „Uns fehlt ein neues weltpolitisches Groß-Narrativ.“ Die Staatengemeinschaft habe in den letzten Jahrzehnten wenig Erfahrungen mit Friedensstiftungen gesammelt. Aus dieser sechsten These leitete Osterhammel sein ernüchterndes Fazit ab: „Weil im Ukraine-Krieg das Eingreifen eines starken Pazifikators, der keine der Kriegsparteien favorisiert, als Möglichkeit entfällt, weil zudem der Krieg auf russischer Seite von einer hochideologisierten Nuklearmacht mit hemmungsloser Brutalität und Regelvergessenheit geführt wird, ist das sprichwörtliche Schweigen der Waffen nicht in Sicht , erst recht kein gestifteter, also kein von beiden Seiten als nur minimal gerecht empfundener, Frieden und noch weniger eine neue Ordnung der Welt.“

Musikalisch gestalteten Daniel Lorenzen an der Violine und Justus Meinhard am Klavier den Abend. In der Folgewoche am 23. August widmen sich die DomGedanken dem Thema „Der verlorene Frieden – und wie er sich wiederherstellen ließe“ mit dem Generalsekretär der internationalen Gemeinschaft Sant’Egidio aus Rom, Dr. Cesare Zucconi. Militärbischof Dr. Franz-Josef Overbeck spricht am 30. August über „Christen und die wehrhafte Freiheit“. Zum Abschluss der diesjährigen DomGedanken referiert am 6. September die Friedensnobelpreisträgerin 2022 Prof. Dr. Irina Scherbakowa zur Frage „Ist Frieden mit Putin möglich?“ Der Eintritt ist jeweils frei.

Text: Anke Lucht
Bildunterschrift: Prof. Dr. Jürgen Osterhammel      Bild: Bischöfliche Pressestelle / Jule Geppert