An Begegnungen festhalten und differenziert bewerten

, Bistum Münster

Die aktuellen Bilder aus Israel sind schlimm genug, wenn man sie im Fernsehen oder Internet verfolgt. Pfarrer Ludger Bornemann aber berühren sie noch direkter. Schließlich hat er 20 Jahre in dem Land gelebt, unter anderem von 2001 bis 2016 als Geistlicher Leiter des Pilgerhauses Tabgha in Tiberias am See Genezareth. Heute arbeitet der 67-Jährige als geistlicher Begleiter der Brüdergemeinschaft der Canisianer und Rektor der Kapelle des Canisiushauses in Münster. Israel und dem Nahen Osten ist er verbunden geblieben, unter anderem als Geistlicher Leiter des Deutschen Vereins vom Heiligen Land (DVHL). Er weiß: „Dort vollzieht sich ein komplexer, fataler Prozess.“ Bornemann, der selbst aktuell in Tabgha ist, berichtet aber auch von Hoffnungszeichen – die gelte es zu stärken.

Ein aktuelles Foto von Pfarrer Ludger Bornemann aus Tabgha mit den dortigen philippinischen Schwestern. Viele der Christinnen und Christen im Heiligen Land sind laut Bornemann asiatischer Herkunft.

© privat

Über seine Kontakte ist er auch von Münster aus auf dem Laufenden über die Situation des Pilgerhauses. Im Norden Israels relativ weit vom Gaza-Streifen entfernt, ist es dennoch geschlossen, die Mitarbeitenden sind freigestellt. Gedanken macht sich Bornemann auch über die 23 Freiwilligen des DVHL, junge Erwachsene, die in sozialen Projekten eingesetzt waren. Sie seien nach Deutschland ausgeflogen worden, jetzt aber ohne feste Beschäftigung und in Sorge um ihre Bekannten.

Denn deren Situation, betont Bornemann, ist ungleich dramatischer. Auch Christen seien unter den Geiseln. Fast alle christlichen Familien hätten zudem eine Verbindung zu Soldatinnen und Soldaten, von denen es keine Nachrichten gebe, zu Opfern des Massakers vom 7. Oktober oder zu Menschen auf der Flucht. Die römisch-katholische und die orthodoxe Gemeinde in Gaza-Stadt im Norden hätten viele Personen aufgenommen, die zur Flucht in den Süden nicht in der Lage seien. Jetzt seien die Kirchen voll mit alten und behinderten Menschen.

Dass der Konflikt so brutal ausgebrochen ist, hat Pfarrer Bornemann und viele seiner Bekannten überrascht. Wahrscheinlich habe die palästinensische Terrororganisation Hamas, aufgestachelt aus dem Iran, mit ihrem Angriff die innenpolitische Spaltung Israels ausnutzen und den Entspannungsprozess mit Saudi-Arabien stoppen wollen. Grundsätzlich sei der Konflikt nie weg gewesen. „Sowohl die israelische als auch die palästinensische Gesellschaft sind zerrissen, Radikale beider Seiten spielen mit dem Feuer, ohne Rücksicht auf die eigene Bevölkerung“, sagt Bornemann. So sei bekannt, dass die Hamas Tunnel unter Krankenhäusern gebaut hat. Die Bilder, die bei Angriffen auf solche Einrichtungen entstehen, kalkuliere sie ein.

Der Geistliche sieht trotz allem auch Zeichen der Hoffnung: die Schule, die die nur rund 120 Christen im Gaza- Streifen für fast 1.000 Schülerinnen und Schülern verschiedener Religionen betreiben. Die Friedensinitiativen, die Hinterbliebene von Opfern des Konflikts gegründet haben, damit sich deren Schicksal nicht endlos wiederholt. „Sie wissen, dass Tränen und Blut nicht palästinensisch oder jüdisch, sondern menschlich sind. Diese Facetten gehen oft unter, wenn man die Situation nur schwarz-weiß betrachtet“, betont Bornemann, „es ist viel komplexer und betrifft sehr viel mehr verschiedene Menschen, als man von außen oft wahrnimmt.“

Auch diplomatische Aktivitäten, bei denen Deutschland eine wichtige Rolle spiele, geben Bornemann Hoffnung. Ebenso das Brotvermehrungsfest. Seit Jahren sei esin der Brotvermehrungskirche in Tabgha Tradition, um die Kirche nicht nur als Pilgerort, sondern als Heimat für die einheimischen Christen erfahrbar zu machen. Trotz des Krieges habe es auch in diesem Jahr mit rund 200 Gläubigen stattgefunden. „Viele Menschen finden, dass sie gerade jetzt zusammenkommen müssen“, sagt Bornemann, „auch das gehört zur Wirklichkeit.“

Überhaupt wirbt er für einen differenzierten Blick. Ebenso, wie nicht alle israelischen Siedler radikal seien, gebe es Araber, die sich von der Gewalt der Hamas abgestoßen und ihrer Zukunft beraubt fühlen. Nicht einmal die Terroristen, die sich am 7. Oktober in einen regelrechten Blutrausch hineingesteigert hätten, dürfe man als Christ „als Tiere verurteilen, sondern es bleiben Menschen. Wir dürfen nie verallgemeinern.“

Kann es eine Lösung geben? „Die aktuelle Eskalation wirft viele normale menschliche Kontakte zurück“, sagt Bornemann. Er setzt darauf, dass „Geburten blutig sind, dann aber immer mehr Menschen zu der Erkenntnis kommen, dass es so nicht weitergeht.“ Dennoch befürchtet Bornemann: „Diesen Konflikt kann man nicht lösen, nur managen, und zurzeit haben wir auf beiden Seiten schlechte Manager.“ Umso wichtiger sei es, „diejenigen zu unterstützen, die etwas anders wollen. Sie haben es schwer, aber es gibt sie.“

Allen, die etwas Anderes als Gewalt wollen, empfiehlt der Priester Begegnungen: „Je weiter man von einer realen Situation weg ist, umso mehr entwickeln sich Vorurteile gegen Fantasiegebilde. Solche Vorurteile fallen in sich zusammen, wenn man einander konkret erlebt.“ Dafür mache sich auch der DVHL stark. Und: „Gerade als Christen dürfen wir nicht vergessen, dass Israel Jesu Heimat war und  dass er uns gesagt hat, dass wir im Beten nicht nachlassen sollen – gerade in und für Israel und Palästina, ein Land, wo unterschiedliche Religionen viel beten – und leider auch viel vergessen.“

Anke Lucht