Andrea Nahles zu Gast in der LVHS Freckenhorst

, Kreisdekanat Warendorf

Die Vorgeschichte ist ungewöhnlich lang: Zum Krüßing-Fest 2020 hatte Andrea Nahles zum ersten Mal ihr Kommen zugesagt. Corona verhinderte dies. Ihr Jobwechsel war der Grund, weshalb auch ein zweiter Termin scheiterte. Doch die frühere SPD-Bundesvorsitzende und jetzige Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) hielt Wort: Am 24. Oktober sprach sie in der vollbesetzten Gartenhalle der Landvolkshochschule (LVHS) in Freckenhorst über die Herausforderungen ihrer neuen Aufgabe seit dem 1. August und über ihr christliches Selbstverständnis. „Ich freue mich über Ihre Einladung“, wandte sie sich zu Beginn an LVHS-Direktor Michael Gennert, „und bin auch gekommen, weil ich es für wichtig halte, dass unsere Gesellschaft – und dazu gehört auch die Kirche – diskursiv bleibt.“

Anhand von Beispielen aus ihrem Arbeitsalltag verdeutlichte Nahles, was es heißt, als Christin in einem gesellschaftspolitisch bedeutsamen Bereich tätig zu sein. Von einer volkswirtschaftlichen Krise sprach die BA-Chefin mit Blick auf den Arbeitsmarkt und den Fachkräftemangel. Es gehe darum, die Menschen für neue Berufsfelder qualifizieren. „Die Programme funktionieren gut, aber sie brauchen ihre Zeit. Leider nimmt die Geduld in der Gesellschaft spürbar ab“, warnte sie davor, die Probleme auf dem Rücken der Arbeitslosen auszutragen. 

Stattdessen gelte es, an anderen Stellschrauben zu drehen. „Viele Frauen in Teilzeit könnten länger arbeiten, wenn insbesondere die Kinderbetreuung und andere Bedingungen verbessert würden“, betonte Nahles. Helfen würde aus ihrer Sicht außerdem, die Zahl der Abwanderer zu senken. Von den 1,14 Millionen Einwanderern wanderten zwei Drittel wieder aus, weil etwa der Familiennachzug zu kompliziert sei. „Hier kommen nicht nur Fachkräfte, sondern Menschen zu uns. Doch bisweilen haben viele von ihnen das Gefühl, dass sie zwar in Deutschland arbeiten, aber nicht ‚Mensch‘ sein dürfen“, kritisierte Nahles. 

Andrea Nahles: „Fortschritt muss menschlich gestaltet werden, um den Fortschritt auch nutzen zu können.“

© Bistum Münster

Ausführlich ging die frühere SPD-Chefin auf ihre Forderung nach einer „Dekade der Automatisierung“ ein. „Vor einigen Jahren waren Automatisierung und Künstliche Intelligenz für mich auch noch eine mysteriöse und relativ bedrohliche Sache“, gestand Nahles. Ihre Einstellung habe sich deutlich geändert, denn die Automatisierung in der BA schaffe Freiräume, um Mitarbeitenden mehr Zeit für persönliche Beratung zu verschaffen. Erst kürzlich habe sie sich mit der Initiative „Human friendly automation“ (übersetzt „menschenfreundliche Automatisierung“) auseinandergesetzt, die die Folgen für Mitarbeitende in den Blick nimmt. 

„Wir automatisieren nicht, um Beschäftige einzusparen“, erklärte sie, „aber wenn wir weiterhin für die Menschen leistungsfähig sein möchten, ist die Automatisierung ein wichtiges Thema in einem Land, das ein massives demographisches Problem hat“. In der Kirche komme der Bereich Künstliche Intelligenz nahezu nicht vor, teilte Nahles ihre Beobachtungen und wünschte sich eine größere Offenheit von den Verantwortlichen: „Fortschritt muss menschlich gestaltet werden, um den Fortschritt auch nutzen zu können“, sagte die frühere Politikerin. Die Kirche könne dazu einen Beitrag leisten. 

Ann-Christin Ladermann