In diesem Jahr an Allerseelen (2. November) gedachten die Mönche der Abtei dieser Verstorbenen in besonderer Weise. Sie hatten den orthodoxen Erzpriester Viktor Savik und den Kantor John Pumphrey eingeladen. Gemeinsam mit ihnen feierten sie nach dem Totengedenken in der Abteikirche auf dem Friedhof eine orthodoxe Liturgie. „Das sogenannte ‚Panichida‘. Das Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet ‚die ganze Nacht‘. Es bezeichnet die Nachtwache für die Verstorbenen“, erläutert Thomas Bremer. Der Professor an der katholisch-theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität hat den Lehrstuhl für Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung inne. Er hatte nach einem Gespräch mit Abt Andreas Werner den Kontakt zu Vater Viktor, der die orthodoxen Gemeinden in Spandau und in Brandenburg an der Havel leitet, vermittelt.
Sowohl den Erzpriester als auch Abt Andreas und die 25 anwesenden Benediktiner berührte die Feier auf dem Friedhof. „Es war für mich ein großes Erlebnis, an diesem heiligen Ort gemeinsam mit den Brüdern der russischen Toten zu gedenken“, sagt Vater Viktor. Das kann Abt Andreas nur bestätigen: „In dieser Feier ist die Versöhnung zwischen den Menschen aus Russland und unseren Mitbrüdern erlebbar geworden. Das hat mich berührt.“ Die Feier sei Teil der Erinnerung an die Menschen. „Diese Erinnerung ist für Versöhnungsprozesse zentral“, ergänzt Bremer.
Die Benediktiner waren 1941 aus ihrem Kloster vertrieben worden. „In den letzten Kriegsjahren des Zweiten Weltkriegs wurden viele russische Zwangsarbeiter in der Umgebung eingesetzt. In der Abtei hatten einige NS-Institutionen ihren Sitz, und zuletzt wurde auch ein Feldlazarett eingerichtet“, blickt Pater Dr. Marcel Albert in die Vergangenheit. Bei Kriegsende sei alles aufgelöst worden und zahlreiche russische Gefangene seien in das Kloster gekommen. „Viele von ihnen sind 1945 verstorben, vermutlich an Thypus, und wurden auf dem Friedhof hinter der Abtei begraben“, berichtet der Benediktiner, der sich mit der Geschichte der Zwangsarbeiter intensiver beschäftigt hat. Als die Mönche 1946 zurückgekehrt seien, hätten sie – wie viele Menschen in Deutschland – zunächst andere Sorgen gehabt. Doch 1967 sei der Kriegsgräberfriedhof neu gestaltet worden. „Dazu gehört auch das große Denkmal aus Anröchter Sandstein, in das von einem Recklinghäuser Steinmetz ein im christlichen Osten allgemein übliches Doppelkreuz eingearbeitet ist“, erklärt er.
Ebenso seien die Grabsteine mit Namen der Verstorbenen, sofern sie bekannt gewesen seien, neu errichtet worden. Mit dem Gräberfeld der russischen Zwangsarbeiter sei die Grausamkeit des 20. Jahrhunderts sehr präsent. „Die Klostermauern schützen auch nicht vor den Unwillen der Zeit“, betont Pater Marcel. Deshalb sei es den Benediktinern ein Anliegen gewesen, in diesem Jahr besonders der russischen Toten am Allerseelentag als Zeichen der Versöhnung zu gedenken.
Michaela Kiepe