„Die Menschen in der Ukraine zahlen den schrecklichen Preis“

, Bistum Münster

Einen eindringlichen Appell für intensivere Bemühungen zu einer baldigen Beendigung des Ukraine-Kriegs hat am 23. August Prof. Dr. Cesare Zucconi im St.-Paulus-Dom zu Münster formuliert. „Wir müssen darüber nachdenken, wie wir den Dialog in Zeiten des Krieges wieder Kraft geben können. Die Zukunft jedes Einzelnen von uns und der kommenden Generationen hängt auch davon ab.“
 

Sant’Egidio-Generalsekretär Zucconi ruft zu Diplomatie und Gespräch auf

Cesare Zucconi sprach sich im St.-Paulus-Dom für Diplomatie und Gespräche aus, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Foto: Thomas Mollen, Bischöfliche Pressestelle Münster.

Cesare Zucconi sprach sich im St.-Paulus-Dom für Diplomatie und Gespräche aus, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Foto: Thomas Mollen, Bischöfliche Pressestelle Münster.

© Bischöfliches Generalvikariat, Martin Wißmann

Der italienische Politologe und Generalsekretär der christlichen Gemeinschaft Sant‘Egidio aus Rom sprach im Rahmen der diesjährigen DomGedanken, die das Oberthema „Krieg! Und Frieden?“ haben. Im voll besetzten Gotteshaus führte Zucconi seine Gedanken unter dem Titel „Der verlorene Frieden – und wie er sich wieder herstellen ließe“ aus. 
Nach der Begrüßung durch Dompfarrer Gerhard Theben stieg Zucconi mit einem Zitat von Papst Johannes Paul II. ein, der 1986 beim ersten internationalen, interreligiösen Friedenstreffen von Assisi festgestellt hatte: „Der Friede ist eine Baustelle, die allen offensteht. Der Friede ist eine universelle Verantwortung, er geht durch tausend kleine Handlungen des täglichen Lebens. Je nachdem, wie sie täglich mit anderen zusammenleben, entscheiden sich die Menschen für oder gegen den Frieden.“

Diese persönliche Verantwortung jetzt wahrzunehmen, werde immer notwendiger, mahnte Zucconi: „Je länger sich der Krieg in der Ukraine hinzieht, desto mehr rückt der Frieden in weite Ferne.“ Desto mehr bestehe auch die Gefahr, dass sich „andere Länder einmischen“. Auch die atomare Bedrohung sei nach wie vor präsent.

Zu viele Menschen vor allem in der Ukraine müssten den Preis für den verlorenen Frieden zahlen, äußerte der Redner und nannte bedrückende Zahlen: Der Krieg habe in der Ukraine bereits 500.000 Menschen den Tod gebracht oder sie zu Kriegsversehrten gemacht. Fünf Millionen Ukrainer seien obdachlos, 2,5 Millionen lebten in beschädigten Häusern, acht Millionen Menschen seien nach Europa geflohen, hinzu kämen fast ebenso viele Binnenflüchtlinge. Die Ukraine sei heute das ärmste Land in Europa mit einer um 30% geschrumpften Wirtschaft, mit 20 Millionen Menschen ohne Einkommen und 16 Millionen Arbeitslosen. Die psychische Gesundheit von 9 Millionen Menschen sei gefährdet. Mehr als 17,5 Millionen Ukrainer seien in diesem Jahr auf humanitäre Hilfe angewiesen, die jedoch längst rückläufig sei. Diesen „schrecklichen Preis“ müssten die Menschen in der Ukraine zahlen, auch falls es noch gelänge, den Angriff zurückzuschlagen und ein Großteil des Territoriums erhalten bliebe.

Der Friede sei einerseits verloren gegangen, „weil wir uns in einer Zeit der schrecklichen Vereinfacher befinden“, erklärte Zucconi. Um Frieden zu schaffen, müsse man die Völker und die Menschen in ihrer Komplexität wahrnehmen, auch um die Geschichte zu verstehen. Erforderlich sei, einen nachdenklichen Zugang zur Realität zu pflegen und sich nicht in der Militarisierung des Denkens zu verschließen.

Der Friede sei aber auch deshalb verloren gegangen, weil es in jüngerer Zeit bereits andere Kriege gegeben habe, etwa in Syrien oder in einigen Ländern Afrikas, ohne dass sich die Europäer engagiert hätten. „Der Krieg ins Syrien schien ein fairer Krieg zu sein, der uns nicht Interessierte, bis die Flüchtlinge kamen.“ 

Zu Beginn des Jahrhunderts habe es noch ein „starkes Bewusstsein für die Schrecken des Krieges“ gegeben, auch weil es noch Menschen gegeben habe, die sie selbst erlebt oder unmittelbar vermittelt hätten. Im 21. Jahrhundert sei der „Übergang zu einer neuen Generation, die weit vom Weltkrieg entfernt ist, zu spüren.“ Zucconi stellte die Frage, ob „der Krieg mit dem Verschwinden der Zeitzeugen als Instrument der Konfliktlösung und der Durchsetzung von Eigeninteressen rehabilitiert“ worden sei.

Heute herrsche ein technologisches Bild des Krieges vor: „Wie ein Spiel, das weiter entfernt ist vom schmutzigen Krieg in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs oder in Vietnam,“ wenn Menschen etwa aus einem Apache Hubschrauber heraus wie Spielfiguren getötet würden. Dieser „saubere Krieg“ habe die Rehabilitierung des Krieges begünstigt. Zudem würden jüngere Generationen durch eine „Flut von Kriegsbildern aus der ganzen Welt“ in Medien und sozialen Kommunikationsmitteln an den Krieg gewöhnt. Offenbar sei der Krieg für manche wieder „zu einem natürlichen Begleiter der Geschichte und auch der Zukunft geworden.“

Das „ukrainische Drama“ stelle sich heute als Pattsituation dar. Die wahrscheinliche Folge sei die Verstetigung des Krieges auf ukrainischem Gebiet und auf Kosten der Ukraine, sagte Zucconi. Zudem seien Ausweitungen zu befürchten: Die russischen Expansionsbestrebungen würden möglicherweise auch „das Baltikum oder die nordischen Länder Moldawien betreffen.“ Außerdem gebe es noch die „chinesische Unbekannte.“

Der einzige Weg sei „die Diplomatie in ihrer Elastizität und das Gespräch“, stellte Zucconi seine Sichtweise klar. „Es ist notwendig, eine Kultur des Friedens wieder zu beleben.“ Es gehe nicht um Pazifismus, Friede brauche Visionen, die „wir heute im Nebel des Krieges“ noch nicht sehen würden. Papst Franziskus habe Recht, wenn er sage: „Jeder Krieg hinterlässt die Welt schlechter, als er sie vorgefunden hat. Krieg ist ein Versagen der Politik und der Menschheit eine beschämende Kapitulation, eine Niederlage gegenüber den Mächten des Bösen.“

Zucconi verwies darauf, dass Kardinal Matteo Zuppi mit seiner jüngsten Mission „nach Kiew, Moskau, Washington und bald auch Peking“ bereits unterwegs sei, um Wege zum Frieden auszuloten. Zuppi hatte 1992 den Frieden von Mosambik mit ausgehandelt. Das Nachdenken, die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Meinungen sei eben keine Zeitverschwendung, sondern eine Vorbereitung auf bessere Zeiten, endete Zucconi.

Musikalisch gestalteten Max Schmidt an der Posaune und Thilo Schmidt an der Domorgel den Abend. In der Folgewoche am 30. August spricht Militärbischof Dr. Franz-Josef Overbeck über „Christen und die wehrhafte Freiheit“. Zum Abschluss der diesjährigen DomGedanken referiert am 6. September die Friedensnobelpreisträgerin 2022 Prof. Dr. Irina Scherbakowa zur Frage „Ist Frieden mit Putin möglich?“ Der Eintritt ist jeweils frei.