Die Tiere schaffen, was sonst keinem gelingt

, Kreisdekanat Recklinghausen

Die ersten Momente erzählen bereits viel von der außergewöhnlichen Kraft dieser Begegnung: Als die 15-jährige Lilly den Garten des Bauernhofs bei Nordkirchen-Capelle betritt, stürzen sich die Hunde sofort auf sie. Es wird getobt, gelacht und geschmust. Besonders Mischlingshund Mattes ragt beim Tollen mit ihr auf der Wiese heraus. Er zwingt die Jugendliche wild hüpfend immer wieder in die Knie, um auf Augenhöhe mit ihr zu spielen. Der Jugendlichen ist in jeder Sekunde anzumerken, wie gut ihr diese ungestüme Zuneigung tut.

Mutig auf dem Pferderücken: Lilly reitet an der Longe von Anne Weißner.

Henry wird verarztet: Anne Weißner (links) und Lilly versorgen eine kleine Wunde.

Inniger Moment: Lilly verabschiedet sich von Henry.

Lilly ist gekommen, um auf dem münsterländischen Bauernhof eine „tiergestützte pädagogische Maßnahme“ zu erleben. Das klingt sehr sachlich für eine gute Stunde voll großer Emotionen. „Wir nennen es auch Bauernhof-Pädagogik“, sagt Anne Weißner. „Es geht hier um viele Dinge: Selbstbewusstsein, Verantwortung, Beziehung, Kommunikation …“ Die Heilpädagogin hat dieses Angebot zusammen mit dem Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Lüdinghausen verwirklichen können. 2.300 Euro hat der SKF dafür von der Stiftung „Frühtraumatisierung – Hilfe und Prävention“ unter dem Dach der Caritas GemeinschaftsStiftung im Bistum Münster zur Verfügung gestellt bekommen.

Die Hauptdarsteller für die Kinder und Jugendlichen mit geistigen, emotionalen und sozial-kommunikativen Beeinträchtigungen sind immer die gleichen: drei Hunde, zwei Esel und ein Pferd. „Henry“, heißt der Warmblüter, zu dem es jetzt auch für Lilly geht. Sie darf ihn für einen kleinen Ausritt zurecht machen. Auch hier ist sofort zu sehen, welche Ausstrahlung das Tier auf sie entwickelt. Bevor es gestriegelt und gesattelt wird, steht eine ausgiebige Kuschel-Runde an. Unter Anleitung von Anne Weißner übernimmt sie dann vorsichtig Aufgaben wie das Füttern, das Säubern der Hufe oder die Versorgung einer kleinen Wunde mit einer Salbe.

„Wir lassen ihr immer viel Raum, selbst ihren Weg zu finden“, sagt Anne Weißner. „Es geht nicht um das Erreichen eines Ziels, sondern um das Erleben der Situation.“ Lilly gibt das Tempo vor, schaut selbst, was sie sich zutrauen möchte, findet ihre eigenen Grenzen. Manchmal gibt die Pädagogin Impulse. „Hat der Henry das noch gern?“, fragt sie. Oder: „Ist das nicht ein wenig zu wild?“

Die Jugendliche bremst sich dann selbst aus, geht mit Ruhe auf das Pferd zu. Manchmal entschuldigt sie sich bei ihm. Auch im Sattel lobt ihn Lilly immer wieder. Ohne Angst vor der Höhe des Pferderückens dreht sie ihre Runden auf der Koppel, beginnt mutig einige Übungen: Freihändig, im Liegen oder mit geschlossenen Augen wagt sie den Ritt. Und bekommt Aufgaben gestellt: Im Vorbeireiten Ringe auf einen Stab stecken. Und dann wird noch getrabt. Ihr Lachen übertönt dabei das Schlagen der Hufe.

„Tiere sind so wertvoll, wenn es um die Emotionen dieser Kinder geht“, sagt Anne Weißner. „Sie sind unvoreingenommen, zeigen direkte Reaktionen, sind uneingeschränkt ehrlich.“ Genau das erleben die Teilnehmenden an den Stunden sonst selten. Unsicherheiten anderer mit ihrer Situation und ihrem Auftreten sind an der Tagesordnung. Auf dem Bauernhof tut sich damit eine Welt auf, die ganz neue Kräfte freisetzen kann. „Wenn viele andere Ansätze der Heilpädagogik manchmal nicht mehr funktionieren: Tiere gehen immer.“

Zum Abschluss geht es noch einmal zurück in den Garten. Wieder warten die Hunde schwanzwedelnd auf Lilly. Bei der von ihr so geliebten süßen Limonade schaut sie am Tisch auf der Wiese gemeinsam mit Anne Weißner und Judith Wulftange vom SkF auf die vergangene Stunde zurück. Die Jugendliche erzählt mit einer Mischung aus Freude und Aufregung von den Dingen, die sie erleben konnte.

„Es ist eine Aneinanderreihung vieler schöner Momente“, sagt Judith Wulftange. „Und das wird nachhallen.“ Die Sozialarbeiterin und Beraterin für Pflegefamilien erlebt immer wieder, wie die Kinder und Jugendlichen lange von ihren Eindrücken auf dem Hof zehren. Das zeige, dass diese Zeit nicht nur eine wichtige Abwechslung in ihrem Alltag sei, sondern auch neue Entwicklungen anstoßen könnten. „Was sie von hier mitnehmen, wird ihnen in vielen Lebenssituationen helfen.“

Die Unterstützung für die Caritas GemeinschaftsStiftung im Bistum Münster wächst weiter. Die darin organisierten 23 Stiftungsfonds konnten im vergangenen Jahr insgesamt 189.000 Euro für caritative Zwecke unterschiedlicher Ausrichtung bereitstellen. „Wir setzen da an, wo es am Notwendigsten ist und es keine anderen Fördermittel gibt“, sagt Tobias Glose anlässlich des Europäischen Tags der Stiftungen am 1. Oktober. Der Geschäftsführer der Gemeinschaftsstiftung freut sich über das „tatkräftige Engagement der Stiftungsfamilie“, die im Jahr 2024 bereits zwei weitere Stiftungsideen umsetzen konnte, welche sich um die Sorge von Kindern in Not sowie Menschen mit Behinderungen kümmern.

Text und Fotos: Caritas für das Bistum Münster / Michael Bönte

Von Recke bis Recklinghausen, von Emmerich bis Lengerich - die Caritas im Bistum Münster ist für Menschen in Notsituationen da. Ob Jung oder Alt, Alleinstehend oder Großfamilie, mit Behinderung oder Migrationshintergrund, körperlicher oder psychischer Erkrankung. Unter dem Motto "Not sehen und handeln" sind 80.000 hauptamtliche Mitarbeitende und 30.000 Ehrenamtliche rund um die Uhr im Einsatz. Für die Hilfe vor Ort sorgen 25 örtliche Caritasverbände, 18 Fachverbände des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) und 3 des SKM - Katholischer Verein für Soziale Dienste. Hinzu kommen unter anderem 57 Kliniken, rund 150 Einrichtungen der Behindertenhilfe, 205 Altenheime, 105 ambulante Dienste, 115 Tagespflegen, 27 Pflegeschulen und 22 stationäre Einrichtungen der Erziehungshilfe.