Ein Ort, an dem Mut und Unabhängigkeit beginnen

, Bistum Münster, Kreisdekanat Steinfurt

Es war ein ungeheurer Druck, den Sandra F. (Name geändert) verspürte. Die Beziehung der heute 49-Jährigen zu ihrem Mann war schon seit einigen Jahren immer mehr zur Qual geworden. Er kontrollierte sie rund um die Uhr. Kontakte zu anderen Menschen unterband er, nur für ihre Arbeit im Supermarkt durfte sie die Wohnung verlassen, das Gehalt kassierte er ein. Er verfolgte sie auf ihrem Weg zum Job, fragte sie ständig aus, ließ ihr kaum Luft zu atmen. „Ich war psychisch am Ende.“

Gruppenfoto: Marita Prigge, Ute Middendorp vom Fachbereich Existenzsichernde Hilfen und Elisabeth Middendorf.

Seit 30 Jahren hält der SkF in Ibbenbüren die Türen vom Wohnhaus für Frauen in Notsituationen offen (von links): Marita Prigge, Ute Middendorp vom Fachbereich Existenzsichernde Hilfen und Elisabeth Middendorf.

© Caritas für das Bistum Münster

Lange Zeit hielt sie dieser Situation stand, irgendwann aber ging es nicht mehr. Sie nahm Kontakt zum Sozialdienst Katholischer Frauen (SKF) in Ibbenbüren auf. Mit einem Umweg über das Frauenhaus in Rheine kam sie schließlich in das SKF-Wohnhaus für Frauen in Notfallsituationen. „Das war der Wendepunkt“, sagt Sandra F.. „Auch wenn der Weg in meine heutige Unabhängigkeit noch lang war, er begann in der kleinen Wohnung dort, in der ich erstmals Sicherheit und Freiheit spürte.“

Es sind fast 150 ähnliche Schicksale, die Frauen mit ihren Kindern in den vergangenen 30 Jahren in das weiße Haus an einer Hauptstraße in Ibbenbüren gebracht haben. Alle suchten einen Ausweg aus unerträglichen familiären Situationen – aus Gewalt, Vernachlässigung, Ängsten. Bewohnerinnen jeden Alters waren dabei, wohnten dort nur ein paar Wochen, manchmal viele Monate. Ziel des Angebots war es von Beginn an, diese Frauen soweit zu stabilisieren, dass sie wieder in der Lage waren, möglichst innerhalb eines Jahres ihr Leben aus eigener Kraft selbstständig und eigenverantwortlich zu führen.

„Der Bedarf damals war groß“, erinnert sich Marita Prigge an den Start der Einrichtung, die von der Sozialpädagogin viele Jahre geleitet wurde. Die Anfragen kamen von allen Seiten, etwa von sozialen Einrichtungen, Behörden, Anwälten oder Betreuerinnen. „Die erste Frau zog schon ein, da war das Haus noch gar nicht eröffnet.“ Der Bedarf ebbte nie ab. Immer überstieg die Zahl der Suchenden das Angebot in den anfangs fünf, inzwischen aus räumlichen Kapazitätsgrenzen nur noch drei zur Verfügung stehenden Wohnungen. Im Jahr 2023 fragten 24 Frauen an, nur vier konnten einziehen.

„Deswegen ist das Jubiläum im November eigentlich ein trauriges“, sagt sie. „Es macht mich betroffen, wenn ich fragen muss: Hat sich denn gar nichts geändert?“ Es gilt in den Augen von Prigge immer zu schauen, wo die Not am größten ist. Das ist nicht leicht, hat sie doch viele Gesichter. Die Frauen kommen auch aus der Obdachlosigkeit oder psychotherapeutischen Einrichtungen. „Es kam auch einmal eine 80-Jährige, die in ihrer kleinen Handtasche nur Unterwäsche mitbrachte.“

Wer einzieht, macht in der Regel einen großen Schritt. Und das ist sofort zu sehen, sagt Elisabeth Middendorf. „Es ändert sich etwas in den Gesichtern der Frauen.“ Weil es plötzlich nicht mehr ums Überleben geht, sondern viel von dem da ist, was sie vorher nicht hatten, weiß die SKF-Sozialarbeiterin, die ebenfalls einige Jahre für das Wohnhaus zuständig war. „Nicht nur Ruhe und Sicherheit, auch ein voller Kühlschrank, Alltagshilfen von unseren Mitarbeitenden oder die Möglichkeit, mit den Kindern im Garten zu spielen.“

Das bringt Ressourcen zurück. Die Betroffenen haben wieder Kraft, neue Perspektiven zu entwickeln. Bei der Suche nach Arbeit oder Wohnraum können sie sich Unterstützung holen. Auch bei allen anderen bürokratischen und organisatorischen Fragen stehen ihnen die Fachkräfte des SKF zur Seite. Ob es am Ende immer der eigenständige Weg abseits des alten Umfelds ist, bleibt dabei offen. „Es ist natürlich toll, wenn sie sich lösen können und eine neue Perspektive finden“, sagt Prigge. „Es ist aber auch in Ordnung, wenn sie in die alte Beziehung zurückkehren – nur anders: stärker, selbstbewusster und bestimmender.“

Das gelingt immer. Auch weil die Solidarität der Frauen im Haus dabei hilft. „Wenn ein Mann das Zugangs-Verbot nicht einhalten will, stellt sich auch mal eine andere Frau in die Tür und sagt: Bis hierher und nicht weiter!“ Prigge freuen solche Anzeichen wachsenden Selbstvertrauens. Genauso wie der Anruf einer Frau bei der Polizei, als ihr Mann nachts mit seinem LKW laut hupend vor dem Haus auf- und abfuhr.

Es sind viele Mut machende Geschichten, die in dem Wohnhaus für Frauen in Notsituationen in den vergangenen 30 Jahren begonnen haben. Auch wenn die Wege nicht immer gerade waren. Wie auch bei Sandra F.. Zwischen zwei Aufenthalten kehrte sie noch einmal zu ihrem Mann zurück, bis sie endgültige Entscheidungen treffen konnte. Heute ist sie geschieden, hat aber zwischendurch noch Kontakt zu ihm. Entscheidend aber ist: „Wenn ich ein Treffen beende und ihn wegschicke, akzeptiere ich kein Nein mehr.“
 
Caritas für das Bistum Münster/Michael Bönte