Nawalny – ehrlich und verletzlich

    Sein Leben war ein Martyrium, ein unblutiges – und mutiges. Vielleicht war der Schock über den Tod von Alexej Nawalny gerade deshalb so groß. Der Putin-Gegner habe starkes Gottvertrauen gehabt. Davon ist Dr. Hubertus Lutterbach, Professor für Christentums- und Kulturgeschichte an der Universität Essen, überzeugt. Er sprach beim Geistlichen Themenabend am 13. März im münsterischen St.-Paulus-Dom über „Märtyrer von heute im Dienst einer Welt für alle“. Beeindruckt von Nawalnys Lebenszeugnis äußerte der Historiker die Hoffnung, dass es in Münster in Zukunft eine Nawalny-Allee geben möge. Der Kreml-Kritiker sei nicht eingeknickt, selbst nicht unter Gewalteinwirkung als politischer Gefangener in einem sibirischen Gefängnis.

    Hubertus Lutterbach

    Prof. Dr. Hubertus Lutterbach sprach beim Geistlichen Themenabend im münsterischen Dom über „Märtyrer von heute im Dienst einer Welt für alle“.

    © Bistum Münster

    Wichtiger als die unklaren Umstände von Nawalnys Tod ist für Lutterbach die Tatsache, „dass er sich religiös – in diesem Fall: alltagspraktisch zum christlichen Gottesglauben – bekannte“. So habe er 2021 in einem Berufungsverfahren vor einem Moskauer Gericht für viele überraschend erklärt, als gläubiger Mensch zu leben. Der Glaube habe ihn in seinem Leben unterstützt, „weil [mit der Bibel] alles viel, viel einfacher wird“. In seinem Schlusswort zitierte Nawalny damals im Beisein der Richter aus der biblischen Bergpredigt: „Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt“ (Mt 5,6).

    Der Kreml-Kritiker habe noch im Gerichtssaal die Seligpreisungen für sich interpretiert: „Dieses ‚Selig sind die, die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden‘ – das mag exotisch oder komisch klingen, aber in Wirklichkeit ist dies aktuell die bedeutendste politische Idee in Russland.“ Lutterbach gestand den Zuhörenden, „dass mich die Worte von Alexej Nawalny immer wieder tief berührt haben und sie mir bis in die Nächte nachgegangen sind“. Deshalb zitierte er den russischen Oppositionellen noch einmal mit dem, was er aus den Seligpreisungen an alltagskonkreten Visionen für sich ableitete: „Wir sehen die schlimmste Art – bewaffnete Ungerechtigkeit. Aber wir sehen gleichzeitig auch, dass Millionen Menschen Gerechtigkeit wollen. Und früher oder später werden sie Gerechtigkeit bekommen: ‚Sie sollen satt werden‘.“ Die Seligpreisungen hätten Nawalnys Gottvertrauen besonders inspiriert, glaubt Lutterbach: „Er war überzeugt, dass diese überweltlichen, nicht-menschlichen Zusagen Wirklichkeit werden.“

    Wenn eine Woche nach Nawalnys gewaltsamem Tod 800 russisch-orthodoxe Priester und Laien dafür demonstrierten, dass sein Leichnam für eine würdevolle Bestattung freigegeben wird, spiegle sich darin ein erstes Mal wider, dass Anhängerschaft und Verehrung eines Blutsmärtyrers ebenso wichtig sind wie sein gewaltsamer Tod. Kein Wunder, findet Lutterbach, dass der Kreml alles daransetzte, um jedwedes Aufkommen einer Nawalny geltenden Märtyrer-Memoria im Keim zu ersticken: „Da für den Märtyrerkult immer der Leib des Toten entscheidend ist, versuchte man seinen Leichnam zurückzuhalten, um ihn möglichst namenlos und unerreichbar zu verscharren.“

    Große Polizeiaufgebote und angedrohte Verhaftungen hätten aber nichts daran geändert, dass die Verehrung für Nawalny inzwischen Fahrt aufgenommen habe, betonte Lutterbach.

    Am Ende seines Vortrags fasste der Professor für Christentums- und Kulturgeschichte zusammen: „Wenn eine Märtyrerin oder ein Märtyrer vor sich selbst besteht, vor der Weltgemeinschaft besteht und – so hoffen wir – vor Gott besteht, dann liegt das daran, dass sich ein solcher Mensch schonungslos ehrlich und verletzlich zeigt: Genau so, wie wir Menschen sind.“

    Für musikalische Zwischentöne an diesem Abend sorgte Maximilian Betz an der Domorgel.

    Die Geistlichen Themenabende in der diesjährigen Fastenzeit stehen unter dem Leitwort „Ich will Euch Zukunft und Hoffnung geben“. Prof. Dr. Hans Hobelsberger aus Paderborn spricht am 20. März um 18.30 Uhr im St.-Paulus-Dom über „Kirche der Hoffnung“. Den Abschluss der Themenreihe macht am 27. März die Düstere Mette, die um 19.30 Uhr beginnt.

    Der Eintritt zu den Veranstaltungen ist frei. Die Kollekte der Abende kommt der Aktion Babykorb des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) zugute.

    Die Geistlichen Themenabende werden live im Internet übertragen auf www.bistum-muenster.de sowie dem YouTube- und dem Facebook-Kanal des Bistums Münster.

    Gudrun Niewöhner