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Polnischer Diplomat Janusz Reiter eröffnete DomGedanken 2022

, Bistum Münster

Einen kritischen Blick auf die Politik der europäischen Staaten in Vergangenheit und Gegenwart hat am Mittwochabend (10. August) im St.-Paulus-Dom der polnische Diplomat und Publizist Janusz Reiter geworfen. Der frühere polnische Botschafter in Berlin und Washington sprach zum Auftakt der diesjährigen „DomGedanken“-Vortragsreihe zum Thema „Die Rückkehr der Geschichte – Europa im Realitätscheck“.

Reiter schlug dabei einen weiten zeitlichen Bogen: vom westfälischen Frieden bis hin zum gegenwärtig stattfindenden Krieg in der Ukraine. „Wir sind Kinder unserer Geschichte“, sagte er. „Nur wenn wir unsere Geschichte kennen und verstehen, können wir Fehler vermeiden, die schon in der Vergangenheit gemacht wurden.“ Teil der geschichtlichen Erfahrung vieler Polen sei es, dass man sich auf Sicherheit und Frieden in Europa und insbesondere in Polen selbst nicht verlassen könne. Dies sei der Lage zwischen den beiden größeren Mächten Deutschland und Russland geschuldet. Die politischen Umwälzungen der späten 90er-Jahre seien deshalb eine „Zeitenwende“ gewesen: „Das Land war in einem desolaten Zustand, aber voller Zuversicht und Hoffnung auf eine stabile Demokratie.“ Der Traum von Sicherheit sei durch die angestrebte Mitgliedschaft in der NATO wahr geworden.

Der Glaube, dass sich auch Russland in Richtung Demokratie entwickeln würde, habe sich dagegen als Illusion erwiesen. Selbst die Annahme, dass Russland sich wenigstens grundsätzlichen internationalen Spielregeln unterwerfen würde, sei im Nachhinein falsch gewesen: „Spätestens die Annexion der Krim 2014 hat diese Hoffnung zerstört.“ Präsident Putin habe 20 Jahre lang die Militarisierung der russischen Gesellschaft vorangetrieben. „Putins Russland will nicht geliebt werden, es will gefürchtet werden!“ Deswegen brauche er dringend Erfolge im Ukraine-Krieg, einerseits als Beweis der Stärke, andererseits, „weil die demokratischen, pro-westlichen Ambitionen der Ukraine ihn beleidigen“, so Reiter. Putin habe Angst, dass diese Bewegung bei Erfolg auch auf Russland überschwappen könnte.

Entschieden verteidigte der Diplomat die Osterweiterungen von NATO und EU: „Glaubt irgendjemand im Ernst, dass Russland friedlicher wäre, wenn es weite Teile des früheren Ostblocks weiterhin kontrollierte? Nein, nur der Westen würde schwächer dastehen.“ Und die Lehre aus der Geschichte laute: Schwäche könne man sich nicht leisten. Es gebe keine Überlebensgarantie für einen freien Zusammenschluss von Demokratien. Deswegen dürfe militärische Stärke nicht in einen Gegensatz zum liberalen Lebensmodell des Westens gestellt werden.

Mit der deutschen Außenpolitik der vergangenen Jahre ging Reiter hart ins Gericht: „Deutschland hat den internationalen Handel zur charmanten Alternative einer klassischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erklärt.“ Dieser Ansatz sei gescheitert. Deutschland müsse sich in seiner Führungsrolle in Europa neu erfinden, nicht aus Idealismus, sondern aus Eigeninteresse. Ein Zerfall oder eine Dauerkrise der EU würde das politische Geschäftsmodell Deutschlands in Frage stellen. Eine wichtige weltpolitische Rolle Deutschlands sei nur im europäischen und transatlantischen Rahmen denkbar, schon allein, um für diese Führungsrolle Akzeptanz und Legitimität zu schaffen.

Europas Sicherheitsordnung, so Reiter, könne nur transatlantisch geprägt sein. Und trotz aller Sorge über die Zuverlässigkeit der amerikanischen Seite sei er überzeugt, dass Europa auch für den künftigen US-Präsidenten, wer immer dies auch sei, ein notwendiger und wichtiger Partner bleibe. „und je mehr dieser Verbündete anzubieten hat, desto wichtiger wird er.“

Thomas Mollen