In Syrien hat Rahaf Aldabbagh ihr Studium zur Ingenieurin abgeschlossen. Ihre Flucht nach Deutschland liegt inzwischen acht Jahre zurück. In dieser Zeit hat die 32-Jährige Deutsch gelernt, das „Transkulturelle und interreligiöse Lernhaus der Frauen“ im Haus der Familie in Münster besucht – und studiert Soziale Arbeit. „Das Lernhaus hat mein Leben verändert. Die anderen Frauen haben mich nicht nur als eine Frau mit Kopftuch wahrgenommen, sondern als so viel mehr.“
Diese Haltung strahlt aus, davon ist Barbara Lipperheide überzeugt. Die pädagogische Fachkraft im Haus der Familie organisiert seit 2010 das Lernhaus der Frauen und seit 2017 das „Transkulturelle und interreligiöse Männerforum“. Ein Jahr lang dauert die Weiterbildung für Menschen mit und ohne Migrationsgeschichte, die die Frauen und Männer als Kulturmittlerinnen und Kulturmittler qualifiziert. Als solche unterstützen sie in komplexen Beratungssituationen, zum Beispiel in Kitas und Schulen bei Elterngesprächen, bei Behördenterminen sowie in medizinischen Einrichtungen.
Rund 200 Frauen und Männer sind im Haus der Familie bereits ausgebildet worden, um – im Hauptberuf oder nebenberuflich auf Honorarbasis – als Brückenbauer zwischen Fachpersonal und fremdsprachigen Bürgerinnen und Bürgern zu vermitteln. „Damit eine Gesellschaft zusammenwachsen kann, brauchen wir Menschen, die Hilfestellungen geben können für eine kultursensible Verständigung“, verdeutlicht Barbara Lipperheide das Ziel des Lernhauses für Frauen und des Männerforums.
Asoo Kakony kommt aus dem Irak. Seit neun Jahren lebt der vierfache Familienvater in Deutschland. Wenn er als Sprach- und Kulturmittler für einen Gesprächseinsatz in einer Kita oder einer Schule angefragt wird, macht er alles möglich, um zusagen zu können – auch wenn das bedeutet, dass er seine Schicht als Busfahrer tauschen muss. „Es liegt mir am Herzen, dass ich Kindern und Familien helfen kann, die Kultur in Deutschland besser zu verstehen, und die in Deutschland Geborenen für andere Kulturen sensibilisieren kann“, sagt der 44-Jährige. Bei seinen Einsätzen als Sprach- und Kulturmittler steht nicht die präzise wörtliche Übersetzung im Mittelpunkt, sondern der Sinn des Gesagten. „Vieles kann man nicht wortwörtlich übersetzen, dafür muss man etwas über die Kultur wissen“, erklärt Asoo Kakony.
Gelebte Integration im Alltag
Jeden Menschen respektieren und andere Meinungen akzeptieren – unabhängig von Herkunft und Religion, das haben Rahaf Aldabbagh und Asoo Kakony, die beide inzwischen die doppelte Staatsangehörigkeit haben, bei der Weiterbildung im Haus der Familie gelernt. „Unser Migrationshintergrund ist ein Plus, kein Minus“, betont Rahaf Aldabbagh, die im Lernhaus ihre beste Freundin Karin, in Deutschland geboren, kennengelernt hat. „Unsere Kinder spielen zusammen, wir feiern gemeinsam Feste aus unseren beiden Kulturen“, nennt die Muslima Beispiele für gelebte Integration, die ins Umfeld ausstrahlt.
Asoo Kakony ist aramäischer Christ, hat jahrzehntelang im Irak inmitten von Muslimen gelebt. „Ich dachte, ich kenne mich aus“, erzählt er. Bei der Einheit über die Religionen im Lernhaus erlebte er eine Überraschung. „Ich habe viel über die Gebetspraxis gelernt, auch über das Fasten. Das hat meinen Blick auf den Islam verändert, ich verstehe jetzt viel mehr“, sagt er. Ohnehin habe ihn das Männerforum offener und toleranter werden lassen, er ist gerne mit Menschen zusammen, nutzt jede Gelegenheit, um sein Deutsch zu verbessern. „Wir sind alle Menschen und haben die gleiche Würde“ – mit dieser Haltung gestaltet Asoo Kakony seinen Alltag.
"Nicht über uns sprechen, sondern mit uns"
Auch Rahaf Aldabbagh fühlte sich im Lernhaus als Mensch wahrgenommen. „Was wir Menschen mit Migrationsgeschichte zu sagen haben, wird nicht immer gehört. Dabei haben wir viel zu erzählen, wir sind lebendige Bücher.“ Was sich die angehende Sozialarbeiterin wünscht: „Nicht über uns sprechen, sondern mit uns. Das verändert das Miteinander.“ Gerne bringt sich die 32-Jährige deshalb – wie viele andere ausgebildete Kulturmittler auch – als Referentin im Haus der Familie ein, gestaltet Einheiten zu Antirassismus oder Islamfeindlichkeit.
„Das Gesicht unseres Hauses hat sich dadurch verändert“, bestätigt Barbara Lipperheide. Das rund 20-köpfige Team von festen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wird um 350 Kursleitende ergänzt, viele davon Menschen mit Migrationsgeschichte. „Wir haben in den vergangenen Jahren ganz viel gelernt“, sagt sie. So gebe es beispielsweise bei Ausflügen inzwischen selbstverständlich immer auch Speisen, die halal sind. Für die Pädagogin steht fest: „Menschen aus anderen Herkunftsländern verändern sich, wenn sie Teil der deutschen Gesellschaft werden. Gleichzeitig verändern sie die Gesellschaft. Und das ist Transkultur: Etwas vermischt sich und wird zu etwas großartigem Neuen.“