"Verantwortliche haben versagt"

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„Verantwortliche in der Bistumsleitung haben damals auf schwere und für die Betroffenen schlimme Weise versagt.“ Dr. Jochen Reidegeld, stellvertretender Generalvikar des Bistums Münster, bat die Opfer des sexuellen Missbrauchs durch Kaplan Heinz Pottbäcker am 27. November in Rhede auch im Namen von Münsters Bischof Dr. Felix Genn um Verzeihung: „Ich tue dies in dem Bewusstsein, dass angesichts des Leids, das die Betroffenen erlitten haben, Vergebung fast unmöglich ist“, erklärte Reidegeld weiter. Wut und Fassungslosigkeit, aber auch die Forderung nach sorgfältiger Aufarbeitung bestimmten die Informationsveranstaltung, zu der das Bistum Münster ins Pfarrheim „Zur Heiligen Familie“ eingeladen hatte. Das Interesse war groß. Viele wollten wissen, wie es dazu kommen konnte, dass der verstorbene Pottbäcker als Kaplan in Rhede von 1971 bis 1973 nachweislich Kinder sexuell missbraucht hat.

Der stellvertretende Generalvikar des Bistums Münster, Dr. Jochen Reidegeld (links) mit Pfarrer Thorsten Schmölzing

Der stellvertretende Generalvikar des Bistums Münster, Jochen Reidegeld (links), bat die Opfer des sexuellen Missbrauchs durch Kaplan Pottbäcker in Rhede auch im Namen von Münsters Bischof Felix Genn um Verzeihung. Mit im Bild Pfarrer Thorsten Schmölzing von St. Gudula (rechts).

© Bischöfliche Pressestelle/Gudrun Niewöhner

Ein Betroffener hatte sich ans Bistum Münster gewandt und den Fall damit bekannt gemacht. Sein Anliegen: Aufklärung und Aufarbeitung. Reidegeld machte deutlich, dass auch das Bistum das wolle. Deshalb teilten er und weitere Bistumsvertreter bei der Informationsveranstaltung Details zum Fall Pottbäcker mit, soweit sie in Münster bislang vorliegen. Dr. Hermann Kahler, ehemaliges Mitglied der Missbrauchskommission des Bistums Münster, ging dabei auch auf die Versetzung des wegen sexuellen Missbrauchs bereits 1968 vom Landgericht Bochum verurteilten Pottbäckers ein. Er sagte, dass der damalige Generalvikar und spätere Bischof von Münster, Dr. Reinhard Lettmann, Pottbäcker die Versetzung nach Rhede mitgeteilt habe. „Es gab Entscheidungen, vor denen man aus heutiger Sicht einfach fassungslos steht“, ließ Reidegeld keinen Zweifel an seiner eigenen Ohnmacht: „Wie konnte man einen Priester, der sich des Verbrechens des Missbrauchs schuldig gemacht hat, an eine Schule versetzen? Wie konnte man ihn erneut in einer Pfarrei einsetzen?  Warum ist niemand auf die Idee gekommen, ihn zu suspendieren? Ihn aus dem Dienst zu nehmen?“

Bischof Genn: "Ein widerwärtiges Verbrechen"

Münsters Bischof Dr. Felix Genn ließ eine persönliche Erklärung verlesen: „Der sexuelle Missbrauch durch Kaplan Pottbäcker zu Beginn der 1970er Jahre in Rhede und an anderen Orten unseres Bistums war ein widerwärtiges Verbrechen“, zitierte der stellvertretende Generalvikar den Bischof. Durch den sexuellen Missbrauch seien junge Menschen auf schändliche Weise verletzt worden. „Die Taten waren nur möglich durch ein System der Vertuschung und des Nichthinsehens und weil viel zu wenig auf das Leid der Opfer geschaut wurde“, betont Genn weiter. Eher sei darauf geachtet worden, das Wohl der Institution nicht zu beschädigen. „Kirchliche Verantwortungsträger haben hier Fehler gemacht“, stellte der Bischof unmissverständlich klar und versprach: „Soweit das überhaupt noch möglich ist, werden wir, schon weil wir das jedem einzelnen Opfer schuldig sind, für eine Aufarbeitung dieser Vergangenheit sorgen.“ Seine Form der Entschuldigung sei vor allem eine Zusage: „Ich werde alles tun, was mir möglich ist, um sexuellen Missbrauch in unserer Kirche heute und in Zukunft zu verhindern. Daran will ich mich messen lassen.“

Über die Zeit Pottbäckers in Rhede lasse sich anhand der Personalakten nichts sagen, erläuterte Kahler, der auch Kirchenjurist ist, den aktuellen Informationsstand. Es fänden sich allerdings Hinweise auf therapeutische Maßnahmen, denen sich der Kaplan unterzog. 1973 sei Pottbäcker zur Aushilfe nach Marl gekommen. Therapeutische Maßnahmen und das Verlassen der Pfarrei „Zur Heiligen Familie“ deuteten auf Vorkommnisse in Rhede hin. Aktuell hätten sich drei weitere Opfer gemeldet, die in Rhede missbraucht worden seien. 
Zwischen 1974 und 1981 war Pottbäcker Religionslehrer an einer Berufsschule in Recklinghausen. Dort hatte er tagsüber mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu tun. „Aber was war mit ihm in der freien Zeit?“ Diese Frage musste Kahler unbeantwortet lassen. 1981 sei Pottbäcker Pfarrer in Recklinghausen geworden. 

Im Laufe des Septembers 1982 verging er sich, so führte Kahler weiter aus, sexuell an drei Jungen. Aus den Personalakten gehe nicht hervor, wer wann was erfuhr. Das Schöffengericht Bochum verurteilte Pottbäcker im September 1983 in Form eines Strafbefehls. Er musste eine Geldstrafe zahlen, nachdem er ein umfassendes Geständnis abgelegt hatte.

Unbeteiligte Dritte sollen weitere Aufarbeitung durchführen

Kahler berichtete, dass Pottbäcker fortan nicht mehr in der Pfarrseelsorge tätig gewesen sei. Er sei eine Zeitlang Hausgeistlicher in einer Ordenseinrichtung in Münster, dann Krankenhausseelsorger in Rheinberg und schließlich Krankenhausseelsorger in Neuenkirchen (Oldenburg) gewesen. „Jede Versetzung war mit der Auflage verbunden, keine Kinder und Jugendlichen zu empfangen. Jede Versetzung hatte ihren Grund darin, dass er sich an die Auflage nicht hielt“, führte Kahler aus und fügte an: „Es gab offensichtlich keine konsequente Kontrolle, keine Disziplinarmaßnahmen angesichts der sich wiederholenden Verstöße, anscheinend keinen Mut zum offenen Konflikt mit einem Mitbruder, der Grenzen überschritt und Auflagen ignorierte.“ Offenkundig habe ein Konzept gefehlt, ihn zu beaufsichtigen und zugleich fachlich zu begleiten.

Formaljuristisch müsse Pottbäcker in Rhede als „Beschuldigter“ gelten, sagte Kahler. Überführter „Täter“ sei er als Kaplan in Waltrop und als Pfarrer in Recklinghausen geworden: „Die Beweislage in Bezug auf Missbrauchshandlungen in Rhede ist allerdings erdrückend“, betonte er. Und sie zeige, dass es wohl viele Menschen gegeben habe, die vom Missbrauch wussten und nicht beziehungsweise nicht konsequent eingeschritten seien.

Die weitere Aufarbeitung der Verantwortlichkeiten solle durch unabhängige Dritte erfolgen, verwies Reidegeld auf einen Beschluss der Bistumsleitung: „In den allermeisten Fällen lässt sich aus den Personalakten kein konkreter Rückschluss darauf ziehen, wer damals von den Hauptverantwortlichen was genau wusste und wer was entschieden hat“, sagte der stellvertretende Generalvikar. Alle Akten der kirchlichen Archive müssten deshalb durchgesehen werden.

Bistum Münster bietet Opfern und Betroffenen Hilfe an

Den Opfern und Betroffenen bietet das Bistum Hilfe an. Reidegeld: „Die Aufarbeitung weckt in Menschen, die Opfer von Heinz Pottbäcker wurden, traumatische Erinnerungen. Ich ermutige alle, sich zu melden und Unterstützung in Anspruch zu nehmen.“ Im Bistum gibt es unabhängige Ansprechpartner für Fälle sexuellen Missbrauchs. Ansprechpartner sind auch die Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen. In Rhede hat sich zudem eine Selbsthilfegruppe für Betroffene gegründet, wie Thorsten Schmölzing, Pfarrer von St. Gudula in Rhede, zum Abschluss ergänzte. Nähere Informationen gibt es unter www.selbsthilfe-rhede.de. Weitere Treffen mit den beiden Prozessbegleitern Gabriele Beisenkötter und Michael Sandkamp vom Bistum seien ebenfalls terminiert.

Zu Beginn der Veranstaltung hatten Ann-Kathrin Kahle, Präventionsbeauftragte des Bistums Münster, und Martin Helmer von der münsterischen Beratungsstelle „Zartbitter“ allgemeine Informationen zum sexuellen Missbrauch, zu Täterstrategien und Tätertypen sowie zu den Folgen des Missbrauchs für die Opfer und zur Perspektive der Opfer gegeben. 

Gudrun Niewöhner