Die Diskussionen seien nicht neu, seit zwölf Jahren sei der Missbrauch von Kindern und Schutzbefohlenen durch Kleriker der katholischen Kirche Thema bei den Katholikinnen und Katholiken sowie in der Öffentlichkeit. „Aufarbeitung jetzt kann nicht mehr bedeuten, Geld für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auszugeben, um noch mehr Wissen zu schaffen. Aufarbeitung jetzt muss bedeuten, die Betroffenen in ihr Recht zu setzen und die Strukturen so zu verändern, dass sexueller Missbrauch vermutlich nicht unmöglich, aber doch immer weniger möglich gemacht wird“, betonte Großbölting, der fehlende Konsequenzen seitens des Bistums kritisierte.
610 der Opfer von sexuellem Missbrauch durch Priester im Bistum Münster seien seit 1945 namentlich bekannt, „wir gehen aber von einer hohen Dunkelziffer aus“, erklärte der Wissenschaftler, der persönliche und strukturelle Fehler beleuchtete, die in der Kirche dazu führten, dass Täter – manche davon Serientäter – lange ungestraft davonkamen und oft weiter in der Seelsorge eingesetzt wurden. „Viele Taten hätten vermieden werden können, wenn das Bistum vor allem die Intensivtäter aus dem Verkehr gezogen hätte“, verdeutlichte Großbölting. Besonders am 2013 verstorbenen Bischof Reinhard Lettmann übte er Kritik. Dieser habe das Geschehene bewusst vertuscht und seine Mitbrüder ohne weitere Konsequenzen in andere Pfarreien versetzt.
Allerdings, räumte er ein, Vertuschung gebe es nicht allein in der Bistumsleitung: „In vielen Gemeinden waren die Vorfälle ein offenes Geheimnis.“
Anfang der 2000er Jahre habe sich der Umgang mit sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche geändert. Großbölting erkennt deutliche Fortschritte bis hin zum heutigen Null-Toleranz-Prinzip, das im Bistum Münster gilt. Dies habe sich auch bei der Arbeit der von ihm geleiteten Forschungsgruppe gezeigt: „Wir konnten unabhängig arbeiten, das Bistum Münster hat uns gut unterstützt und alle Akten zur Verfügung gestellt.“
Der Historiker ging auch auf die spezifisch katholischen Bedingungen ein, die Missbrauch in der katholischen Kirche begünstigen. „Die besondere Hierarchie, der Klerikalismus der Kleriker, die besondere Idee von Sexualmoral und das ‚Unmöglich-machen‘, offen über diese Dinge zu sprechen, machen den katholischen Geschmack des Missbrauchs aus“, verdeutlichte Großbölting. Aus seiner Sicht ist der sexuelle Missbrauch durch Priester viel mehr als „nur ein weiteres Glied in der Kette von Skandalen“ in der katholischen Kirche: „Sexueller Missbrauch ist eine ganz zentrale Anfrage an das Selbstverständnis, die pastorale Praxis und das kommunikative Miteinander in der katholischen Kirche.“
Im anschließenden Gespräch, das von Kerstin Stegemann, der früheren Vorsitzenden des Diözesankomitees der Katholiken im Bistum, moderiert wurde, kam das Entsetzen über die Verbrechen an Kindern und Schutzbefohlenen zum Ausdruck – und gleichzeitig das Unverständnis über das Verhalten der Priester und Bischöfe. Ein Impuls war unter anderem, die Verantwortung und die Rolle der Gemeindemitglieder noch stärker in den Blick zu nehmen. Die Pfarrei St. Johannes in Oelde veranstaltet dazu am Dienstag, 20. September, um 19.30 Uhr zusammen mit der Familienbildungsstätte einen Diskussionsabend im Bonhoefferhaus.
Ann-Christin Ladermann