Propst Michael Langenfeld war die Freude förmlich anzumerken, als er zu Beginn des Gottesdienstes sagte, dass „es hoffentlich wieder viel zu tun gibt in diesem Jahr“. Wegen der Corona-Pandemie hatten in den vergangenen zwei Jahren viele Wallfahrten zur schmerzhaften Gottesmutter ausfallen müssen. „Wenn es irgendwo wirksam geschieht, dass sich Himmel und Erde berühren, dann jetzt, in dieser heiligen Eucharistiefeier“, griff der Propst das Leitwort „Himmel + Erde berühren“ der diesjährigen Wallfahrtszeit, auf.
„Wir beginnen heute die neue Wallfahrtssaison, auf die wir uns freuen können“ sagte Kollig zu Beginn seiner Predigt. „Das Andachtsbild zeigt Maria mit dem geschundenen und toten Jesus in ihren Armen. Und wir können ihr die Worte von Pontius Pilatus in den Mund legen: ,Ecce homo - Siehe, der Mensch‘.“ Diese Worte habe der römische Stadthalter gesprochen, als er dem jüdischen Volk den gefolterten und mit einer Dornenkrone gekrönten Gefangenen Jesus vorführte. „Und auch Maria hält uns diesen Jesus entgegen.“ Dem geschundenen und malträtierten Körper Jesu stellte Generalvikar Kollig das heutige Streben nach dem Ideal entgegen: das Schönheitsideal, den idealen Politiker oder Priester, den idealen Schüler oder Lehrer, „also, den idealen, makellosen Menschen. Gäbe es ihn, würden wir dem Ausruf gerne folgen: Seht da, der Mensch.“ Doch Maria zeige den Menschen den toten Jesus. „Der ideale Retter ist tot. Er, auf den Viele ihre Hoffnungen gesetzt haben. Von diesem Ideal ist nur ein Torso geblieben.“ Jesu Leben sei ruiniert worden und endete im Nichts.
Doch Schwert und Entstellung hätten nicht das letzte Wort. „Kaum zu glauben angesichts des Gekreuzigten, angesichts der zahlreichen Krisen in unserer Welt.“ Denn nicht nur Marias Herz werde mit einem Schwert durchbohrt. „Auch unsere Herzen werden immer wieder durch Schwerter von Wort bis Bombe zerstört.“ Das Gnadenbild lade dazu ein, hinzuschauen, wenn man einem Torso begegne. „Wo wir mit der Hoffnung Marias auf das Irdische schauen, auf das, was nicht ideal ist, das begrenzt, entstellt, zerstört ist, dort begegnen sich Himmel und Erde, dort begegnen wir Himmel und Erde.“
„Indem wir mit der Hoffnung und dem Vertrauen Mariens das Leid der Welt betrachten, stehen wir mit beiden Füßen auf der Erde und strecken unsere Hände zum Himmel. So bezeugen wir in dieser Welt und den Menschen unserer Zeit, dass die Liebe Gottes niemals aufhört“, betonte der Generalvikar. Und dass Gott auch den Torso liebe und den Toten. Und dass am Ende immer das Leben komme.
„Diese Botschaft ist wie eine kleine Goldspur, die auf allem Leiden zu sehen ist. Zu sehen für den, der glaubt. Wer glaubt, sieht mehr“, hob Kollig hervor. Wer die kleine Goldspur auf dem Gekreuzigten sehe, auf dem eigenen Leiden sieht, auf den „entstellten Menschen unserer Zeit sieht, wer die Goldspur sieht auf denen, die getötet werden, der kann das eigene Leben annehmen und die Leidenden unserer Zeit ansehen und ihnen innerlich und äußerlich nahe sein.“ Wie Maria. Nach dem feierlichen Gottesdienst zog die Gemeinde in einer Lichterprozession durch die Stadt, bei der Mitglieder der Bäcker-, Brauer- und Metzgergilde das Gnadenbild durch die Telgter Altstadt trugen. Dabei wurde für die Telgter Bürger sowie für alle Pilgerinnen und Pilger der Saison gebetet.
Die Wallfahrtssaison, die in diesem Jahr unter dem Leitwort „Himmel + Erde berühren“ steht, endet am 29. Oktober mit einem feierlichen Gottesdienst. Gegenstand der Verehrung der Pilger ist das Telgter Gnadenbild der schmerzhaften Muttergottes aus Lindenholz. Es wurde um 1370 geschaffen und zeigt eine Pietà, den Leichnam Jesu Christi im Schoß seiner Mutter Maria.
Jürgen Flatken