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Wolfgang Ischinger: „Wir brauchen ein Europa, das schützt.“

, Bistum Münster

„Ein Europa, das schützt“ – das aufzubauen sei es, wovon die Sicherheit in Europa, das Überleben, künftig abhänge, sagt Prof. Dr. h.c. Wolfgang Ischinger zum Auftakt der Vortragsreihe DomGedanken im St.-Paulus-Dom in Münster. Diese stehen in diesem Jahr unter dem Leitwort „Krieg! Und Frieden?“. Angesichts des durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine verursachten „außen- und sicherheitspolitischen Trümmerhaufens“ sei es höchste Zeit, das europäische Projekt auf eine neue Ebene zu heben. Die bisherige Integrationsaufgabe der Europäischen Union werde überlagert von einer neuen Aufgabe, und zwar der einer Schutzfunktion für ihre 28 Mitgliedstaaten. Denn, und da ist Ischinger sich sicher, „der Krieg in der Ukraine wird, realistisch betrachtet, nicht innerhalb der nächsten Zeit beendet sein.“

„Die Europäer müssen ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen, unabhängiger sein. Vor allem auch was die Sicherheit angeht. Wir brauchen eine Sicherheitsarchitektur, die unabhängiger werden muss von der Schutzmacht USA“, so Ischinger, der Deutschland bei dem Thema in der Rolle des Initiators sieht. Man könne nicht blind darauf vertrauen, dass jeder US-Präsident das gleiche Verständnis für das Schutzbedürfnis der Europäer habe und sich an transatlantische Abkommen halte wie Joe Biden derzeit. „Es gibt keine Garantie. Das hat auch die Ära Trump gezeigt.“ Daraus entstehe die sicherheitspolitische Aufgabe für die gesamte europäische Mannschaft, ein Europa zu schaffen, das schützt . „Es geht - um es mit den Worten des französischen Präsidenten  Emmanuel Macron zu sagen -  um ‚Une Europe qui protège.‘“

Das Thema von Ischingers Vortrag „Sicherheit vor Russland – ist Frieden möglich?“, ist ein großes gesellschaftliches: Im St.-Paulus-Dom sind am Mittwochabend alle Plätze besetzt. In seinen Ausführungen schlägt der ehemalige Leiters der Münchner Sicherheitskonferenz und jetzige Präsident der zugehörigen Stiftung einen weiten Bogen: Warum betrifft die von Bundekanzler Olaf Scholz so bezeichnete „Zeitenwende“ Deutschland ganz besonders? Wie kann Frieden wieder hergestellt werden unter den nun durch den Krieg geschaffenen Bedingungen? Welche Rolle spielt die USA, welche China? Und wie sieht die künftige Rolle, der Europäischen Union aus?

„Deutschland war von der Gründung der Bundesrepublik an bestrebt, den damalige Status Quo – die innerdeutsche Teilung – zu überwinden. Mit der Wiedervereinigung 1989/1990 änderte sich das. Wir begannen eine Liebesaffäre mit dem Status Quo, fühlten wir uns doch nur noch von Freunden umgeben, wie es zahlreiche Politiker immer wieder betitelten. Und sie hatten Recht“, erklärt Ischinger. Auch die Nachbar- und Partnerschaft mit Russland habe dazugehört. „An dieser schönen Idee haben wir bis zum Januar 2022 festgehalten. Auch wenn es längst Zeichen gab – der Krieg in Georgien 2008, die Annexion der Krim 2014 –, dass Russland nicht mehr Partner sein wollte“, so Ischinger, der deutlich macht: „Man hätte Konsequenzen ziehen müssen.“  

„Um in Verhandlungen zu treten, müssen die beteiligten Kriegsparteien erkannt haben, dass der weitere Einsatz militärischer Mittel nichts mehr bringt“, verdeutlicht Ischinger, der als Chefunterhändler 1995 maßgeblich das Dayton-Abkommen zur Beendigung der Krieges in Bosnien und Herzegowina mit ausgehandelt hat. Anzeichen einer solchen Erkenntnis gebe es in Moskau allerdings derzeit wenig. „Trotzdem schließt die Fortdauer des Krieges nicht aus, über diplomatische Maßnahmen nachzudenken. Haben die EU und die Nato eine gemeinsame Linie, was passiert, wenn plötzlich die Waffen an einer Frontlinie schweigen? Wie können wir bei Verhandlungen helfen, dass die Beteiligten dabei zu vernünftigen Ergebnissen kommen?“ Das alles seien Fragen, die man sich bereits jetzt stellen könne und müsse. 

Wie gravierend die sicherheitspolitischen Entwicklungen und Veränderungen weltweit sind, zeigt sich laut Ischinger auch an der Rolle Chinas. „Erstmalig wird China aktiv an der Beendigung eines Konflikts in Europa beteiligt sein“, sagt er. Denn, was die Volksrepublik seit Beginn des Ukraine-Kriegs getan und gesagt habe, manifestiere eine massive Veränderung der machtpolitischen Gegebenheiten. 

„Die Europäische Union muss Beschützerin werden. Es geht um nicht weniger als die Sicherheit von uns allen. Und wenn wir wollen, dann schaffen wir das auch“, schließt Wolfgang Ischinger nach knapp 30 Minuten, in denen man eine Stecknadel hätte fallen hören können. 

Der Abend wurde von thematisch passender Musik eingerahmt, verantwortlich dafür zeichnete Maximilian Betz, Kantor und Organist der Markt- und Stadtkirche St. Lamberti Münster. 

Am kommenden Mittwoch, 16. August, spricht im Rahmen der DomGedanken Prof. Dr. Jürgen Osterhammel zum Thema „Weltordnung und Friedensstiftung seit 1945. Thesen zur Zeitgeschichte. 

Der Eintritt zu den DomGedanken, die seit ihrer Premiere 2015 von Evonik Industries unterstützt werden, ist frei. Die Kollekte ist für die Nothilfe Ukraine bestimmt. Die Gelder kommen direkt Projekten und Partnern zugute, für die sich die Ukrainische Gemeinde und der Ukrainische Verein Münster einsetzen. 

„Wir brauchen ein Europa, das schützt“, sagt Prof. Dr. h.c. Wolfgang Ischinger im Rahmen der DomGedanken im vollbesetzen St.-Paulus-Dom Münster.
Dompropst Hans-Bernd Köppen (r.) begrüßt Prof. Dr. h.c. Ischinger, Präsident der Stiftung Münchner Sicherheitskonferenz, im St.-Paulus-Dom Münster. Der Diplomat ist bereits zum zweiten Mal nach 2017 im Rahmen der DomGedanken zu Gast.

© Bischöfliche Pressestelle/Jule Geppert