Offene Worte sind riskant. Wer sich klar positioniert, macht sich angreifbar. Offene Worte liegen mir – geprägt durch meine Wurzeln als Berliner Gör und Ruhrpottkind. In beiden Regionen liebt man es: hart, aber herzlich. Daher stoßen mir das Verschweigen und taktische Lavieren in der Politik oder im Alltag auf. Die Folgen sind fatal: Misstrauen, Unsicherheit und das Gefühl, dass Worte nichts mehr zählen.
Zwei Erlebnisse haben mich besonders nachdenklich gemacht: Bei Klassengemeinschaftstagen erzählte mehr als die Hälfte der Fünftklässler, dass sie Angst haben, dass schlecht über sie geredet wird. Gleichzeitig sprachen viele von einem Klima, in dem niemand ehrlich seine Meinung sagt. Diese Kinder lernen immer früher, wie wichtig das „Cool-Sein“ ist, wie wichtig es scheint, unangreifbar zu wirken.
In der Politik zeigte sich zeitgleich, wie strategisches Kalkül ehrliche Überzeugungen verdrängt. „Lindnern“ war 2017 fast zum Jugendwort des Jahres geworden und meint: “etwas lieber gar nicht tun (regieren) als es falsch zu tun“. Nun mit der zusätzlichen Bedeutung: „von etwas wissen, aber es nicht konkret zur Kenntnis genommen haben“. Solche sprachlichen Spitzfindigkeiten regen mich auf, werfen aber auch die drängende Frage auf: Wie können wir Werte wie Ehrlichkeit, Respekt und Vertrauen wiederbeleben? Wie schaffen wir eine Kultur, die Mut zu offenen Worten fördert und die Freude daran, gemeinsam Lösungen zu finden?
Ehrlichkeit: Mut zur Klarheit
Klare Worte schaffen Orientierung und schenken Vertrauen. Statt Halbwahrheiten oder verschleierter Botschaften brauchen wir eine Rückkehr zur Einfachheit und Transparenz – und ja, auch ein bisschen Demut. Demut, weil niemand von uns fehlerlos ist. Fehler sind keine Schwächen, sondern Gelegenheiten zu wachsen.
Ehrlichkeit bedeutet, unsere Fehlbarkeit zu akzeptieren und trotzdem mit Mut und Verantwortung zu handeln. Fehlerfreundlichkeit bereichert nicht nur Einzelne, sondern stärkt unsere Fähigkeit, respektvoll und produktiv zu streiten. Wenn wir lernen, respektvoll zu diskutieren und Fehler als Teil des Prozesses anzusehen, entsteht Vertrauen – nicht nur in andere, sondern auch in uns selbst.
Leider erleben wir oft das Gegenteil: Wenn öffentliche Fehler gnadenlos skandalisiert werden, jeder Streit überdramatisiert wird, dann wächst das Bedürfnis sich möglichst unangreifbar zu zeigen und zu taktieren. Nicht jeder Fehler ist ein Skandal, nicht jeder Streit muss ausgeschlachtet werden.
Vertrauen: Die Brücke zwischen Wort und Tat
Vertrauen entsteht, wenn Worte und Taten übereinstimmen. Ob in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Politik: Wir sehnen uns danach, dass das, was gesagt wird, wirklich gemeint ist. Vertrauen erfordert keine Perfektion, sondern Authentizität – die Bereitschaft, zu Fehlern zu stehen und sie als Teil eines gemeinsamen Weges zu sehen. Gerade in schwierigen Zeiten hat kein Mensch die perfekte Lösung oder den glasklaren Durchblick. Der ehrliche Wille reicht, gemeinsam an einer machbaren Zukunft zu arbeiten – ohne Eigennutz, sondern mit dem Blick auf das Gemeinwohl.
Ein konstruktiver Vorschlag: „Tacheles reden“
Wie wäre es, an Schulen und in Gemeinschaften Projekte zu starten, die Mut zur Ehrlichkeit und Fehlerfreundlichkeit fördern? Ein „Ich rede Tacheles“-Projekt könnte Kinder und Jugendliche ermutigen, frei von der Leber weg zu sprechen und mutig und fair streiten zu lernen.
Ebenso könnten Gemeinden gezielt offene Kommunikation fördern. In Bocholt werden die Klarissen ihren Klosterstandort aufgegeben – eine Entscheidung, die viele Menschen aufwühlt. Mit Ehrlichkeit und Respekt begegnen wir dem Sturm der Entrüstung, was nun aus dem Gebäude wird. Wie besonders ist es, dass ein spiritueller Ort wie dieses Kloster über Jahrzehnte die Seele einer Stadt geprägt hat und seine Aufgabe Widerstand auslöst? Wir sagen auch ehrlich: Finanziell kann nicht jedes alte Gebäude gerettet werden. Aber wir würdigen, was das Kloster für die Menschen bedeutet hat, und suchen gemeinsam nach neuen Wegen der Nutzung. Niemand hat die perfekte Lösung, aber im Vertrauen auf eine positive Streitkultur werden wir eine Lösung finden. Widerstand ist so verstanden ein Angebot zur Veränderung. Ich bin sicher, es wird Gutes wachsen. Denn: Wo Respekt spürbar wird, wächst Vertrauen. Wo Vertrauen ist, wird konstruktive Veränderung möglich.
Fazit: Mut zu offenen Worten
Werte wie Ehrlichkeit, Respekt, Demut und Vertrauen sind kein verstaubtes Erbe, sondern das Fundament einer Gesellschaft, die sich gegenseitig stärkt, statt selbstsüchtig hinter dem Rücken zu taktieren. Lassen wir das Licht der Klarheit scheinen – und wagen wir den Mut zu offenen Worten mit der Freiheit der Demut, nicht perfekt sein zu müssen.