Vier Stationen umfasste der Kreuzweg, der den Blick auf Menschen lenkte, denen ihre Würde und ihr Lebensrecht abgesprochen wurde. „Wir wollen in dieser Stunde besonders an behinderte Menschen denken, die in der Zeit des Nationalsozialismus vor 80 Jahren Schmerz und Leid erlitten haben. Mit ihnen und allen Menschen, denen Leid und Gewalt geschieht, fühlen wir uns in dieser Stunde verbunden“, führte Schilles die Mitbetenden ein.
Dazu erhielt jeder Teilnehmer einen Stein als Zeichen für alles, was kalt, hart und schwer ist. Dieser Stein begleitete die Gläubigen bis zum Abschluss an der Kreuzigungsgruppe hinter dem St.-Paulus-Dom. Doch bis dahin war es noch ein längerer Weg durch die belebte Stadt.
An der ersten Station vor dem Landgericht stand die Erinnerung an die Gesetzgebung der Nationalsozialisten im Mittelpunkt. Denn Menschen mit Behinderungen hätten nicht ihrem Bild eines idealen Menschen entsprochen. „Sie machten 1933 ein eigenes Gesetz, das ‚Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘. Darin war geregelt, dass Menschen mit Behinderungen sterilisiert werden sollten – ein tiefer Eingriff in Persönlichkeit und Würde der Betroffenen“, trug Manuela Bauer vor. Mehr als 400.000 Menschen seien zwangssterilisiert worden. Die Kreuzwegteilnehmer gedachten gemeinsam der Menschen, denen ihre Lebensentfaltung nicht nur abgesprochen wurde, sondern die auch in ihrem Leib und in ihrer Person zutiefst verletzt wurden.
Weiter führte der Weg die Gruppe auf einen Parkplatz gegenüber dem Erziehungswissenschaftlichen Institut. An diesem Ort erfuhren die Teilnehmenden, dass die Nationalsozialisten in den Jahren 1940 und 1941 mehr als 70.000 psychisch kranke und behinderte Menschen aus den Einrichtungen abgeholt und getötet haben. Erst durch öffentlichen Druck und die Predigten von Clemens August Kardinal Graf von Galen sei die systematische Ermordung von behinderten Menschen beendet worden.
Für die dritte Station, die unter dem Titel „Widersprochen“ stand, machte die Gruppe auf einer Wiese gegenüber der St.-Petri-Kirche Halt. Vor allem ging es in den Texten um Menschen, die die Taten der Nationalsozialisten nicht einfach so hinnahmen, sondern sie verurteilten und öffentlich Position bezogen. Dazu zitierte Schilles aus einer Predigt des 2005 selig gesprochenen Kardinals Galen, in der dieser klare Positionen für die betroffenen Menschen bezieht. Geerlings betete mit den Teilnehmern für alle, die Farbe bekennen für das Lebensrecht und die nicht schweigen, sondern sich für Schwache und Unterdrückte einsetzen.
Je näher sich die Gruppe dem Dom näherte, umso mehr Menschen kreuzten ihren Weg. Zwischenzeitlich wurden die Betenden sogar geschluckt vom Strom der vielen Katholikentagsteilnehmer, die von der Überwasserkirche in Richtung Dom liefen.
Ruhiger wurde es an der letzten Station, zu der sich die Teilnehmer an der Kreuzigungsgruppe hinter dem Dom versammelten. Sie gedachten der Menschen, denen früher Gewalt angetan wurde und die heute von Gewalt betroffen sind. „Wir fragen nach dem Warum und finden keine Antwort“, sagte Geerlings.
Als Zeichen für alles Schwere und Dunkle bat Schilles die Menschen, ihre Steine unter dem Kreuz abzulegen. Und dies in Verbundenheit mit den Menschen, von denen die Kreuzwegteilnehmer unterwegs erfahren hatten oder an die sie gerade dachten. Gern nahmen die Gläubigen dieses Angebot an. Nach einem gemeinsamen Vaterunser segnete Geerlings die Menschen, die nach einer Zeit der Stille und beeindruckt von dem Angebot des Anna-Katharinenstifts Karthaus ihre eigenen Wege fortsetzten.
Michaela Kiepe