„Das Kiew, das ich kenne, wird nicht mehr das Alte sein“

, Stadtdekanat Münster

Dass Raphael Leuer das letzte Mal etwas von seiner Kollegin in Kiew gehört hat, ist sieben Tage her. „Eine Ewigkeit bemessen an dem, was in dieser Woche passiert ist“, weiß der Lehrer der Hildegardisschule, dem Bischöflichen Berufskolleg in Münster. Am 24. Februar habe die ukrainische Kollegin geschrieben, dass die Schule jetzt auf Distanzunterricht umstellt. „Diese Information ist wahrscheinlich längst überholt“, vermutet Leuer. Schulunterricht an der Partnerschule mit dem schwierigen Namen „Spezialisierte Schule Nr. 53 mit erweitertem Deutschunterricht“ ist aufgrund des russischen Angriffs auf die Ukraine derzeit wohl weder in Präsenz noch digital möglich. 

Der letzte Austausch der Hildegardisschule mit der Schule in Kiew fand 2019 statt, hier sind Schüler vor der Sophienkathedrale in Kiew zu sehen.

© Hildegardisschule

Seit 2014 pflegt die Hildegardisschule den deutsch-ukrainischen Austausch, der damals schon im Krisenmodus, während der Maidan-Revolution, begann. „Die Schule ist nur ein Steinwurf weit vom Maidan entfernt, unsere Schülerinnen und Schüler haben durch die Berichte der ukrainischen Schüler Geschichte hautnah erfahren“, berichtet Leuer. Jedes Jahr im Frühjahr machen sich etwa zwölf Schüler auf den Weg nach Kiew, um dort in Gastfamilien den ukrainischen Alltag kennenzulernen. Im Mittelpunkt steht ein gemeinsames Projekt zu einem geschichtlichen oder gesellschaftlichen Thema. „Beim letzten Austausch 2019 ging es um Flucht“, erinnert sich der Lehrer. Umso unwirklicher sei die momentane Situation.

Für die ukrainischen Schüler, die etwa einen Monat später nach Münster kommen, ist es zusätzlich ein Sprachaustausch. „Die Verständigung ist kein Problem, weil die Schule für ihren sehr guten und umfangreichen Deutschunterricht bekannt ist“, weiß Leuer, der seitens der Hildegardisschule Ansprechpartner für den Austausch ist. Seitdem der Lehrer mit fünf Kollegen des bischöflichen Berufskollegs für eine Sonderfahrt vor Ort in Kiew war, sind nicht nur zwischen den Schülern, sondern auch den Lehrern Freundschaften entstanden. 

Die Corona-Krise hat den Kontakt in den vergangenen zwei Jahren schrumpfen lassen. „Ein Austauschprogramm lebt von realen Begegnungen, eine solche Pandemie ist Gift dafür“, sagt der Lehrer. Weil die Berufsschüler nur zwei oder drei Jahre die Hildegardisschule besuchen, gibt es aktuell keine mehr, die im Rahmen des Austausches in Kiew waren. Leuer weiß aber, dass die derzeitige Situation ehemalige Teilnehmende belastet. „Erst heute Morgen habe ich eine Mail eines ehemaligen Schülers bekommen, der mir schrieb, dass er erfolglos versucht hat, mit seinem damaligen Austauschpartner Kontakt aufzunehmen.“ 

Raphael Leuer ist mit seinen Gedanken in den vergangenen Tagen fast immer bei den Menschen in der Ukraine. Nicht nur bei den Lehrern und Schülern der Partnerschule in Kiew, sondern auch bei ukrainischen Familienangehörigen. Seine 77-jährige Schwiegermutter lebt im Zentrum der ukrainischen Hauptstadt und weigert sich, ihre Wohnung zu verlassen, in der sie bereits ihr ganzes Leben lang lebt. „Meine Frau und ich leiden sehr unter der Situation“, sagt Leuer. Hoffnungsvoll zu sein, fällt ihm angesichts der Nachrichten und Bilder schwer. „Man weiß nicht, wie es weitergehen soll, wie viele Menschen sterben werden, wie viel Zerstörung es noch geben wird. Fest steht, dass das Kiew, das ich kenne, nicht mehr das Alte sein wird.“

Als Zeichen der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine haben die Hildegardisschüler am 2. März einen Friedensmarsch zum münsterischen Rathaus unternommen.

Ann-Christin Ladermann