Das Christentum sei, zitierte Schavan den Gründer der Gemeinschaft Sant’Egidio Andrea Riccardi, eine Perspektive, keine Retrospektive. „Vom Christentum in Europa wird häufig geredet, als gehe eine lange und ehemals wichtige Geschichte dem Ende zu. Wer nicht vom Ende redet, prognostiziert zumindest einen umfassenden Verlust an Relevanz“, stellte sie fest und fuhr fort: „Anzunehmen, dass im Christentum alles gesagt und entdeckt ist, dass es nichts Neues geben wird und geben kann, ist der sicherste Weg in den Niedergang der Tradition. Karl Rahner hat erkannt ‚Tradition wird brechen wenn Neues keinen Platz findet.‘“ Wer immer zurückblicke verliere die Bodenhaftung in der Gegenwart und die Neugierde auf die Zukunft. Sie appellierte: „Geistesgegenwart ist gefragt. Es braucht eine Quelle des Willens und der Kraft zu einer neuen Präsenz. Dann sind neue Erfahrungen möglich. Lassen wir uns provozieren von Gegenwart und Zukunft. Verwalten wir nicht Antworten, die vielleicht nicht mehr gültig sind, sondern finden wir Fragen, die wichtig für unsere Zeit sind.“
Eine weitere Quelle für neue Erfahrungen, die zu einer erneuerten Kirche führen könnten, sei das System der Subsidiarität: „Die Formel muss lauten ‚kleine Einheit vor großer Einheit‘. Es braucht die Revitalisierung und eine Wertschätzung kleiner Einheiten, wie zum Beispiel der freien Träger“, machte Schavan deutlich. Dieses Subsidiaritätsprinzip sei heute mehr denn je ein Schlüssel für die Ordnung moderner und vielfältiger Gesellschaften, denn es stärke deren Resilienz, also die Fähigkeit, schwierige Situationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen. „In kleinen Einheiten geschieht der Prozess der Wiedergewinnung verspielten Vertrauens. Da geht es nicht um Neues um des Neuen willen, sondern um Beziehung.“
Mit einem Zitat von Papst Franziskus machte die ehemalige Botschafterin die Vielfalt als Quelle für neue Erfahrungen deutlich: „Die Kirche hat am Pfingsttag begonnen. An diesem Tag hat sie sich für kulturelle Vielfalt entschieden. Das sagt Papst Franziskus. Vielfalt ist keine Gefahr, sondern hilft, bislang unentdeckte Potenziale der Kirche zu heben.“ Man könne noch weiter gehen: „Kirche kann in der globalen Welt zum Modell dafür werden, wie der Respekt vor kultureller Vielfalt gelebt werden kann.“ Der Synodale Weg – sowohl der in Deutschland als auch der weltweite von Papst Franziskus ins Leben gerufene – würde genau diese große Vielfalt zeigen. „Natürlich lautet die Frage dann oft ‚Was machen die Römer?‘. Die Kirche in Deutschland wurde immer skeptisch betrachtet, spätestens seit Luther. Im Übrigen ist diese Skepsis am größten unter den deutschen Klerikern, die in Rom sind. Aber auch die Kraft der Skepsis kann eine treibende Kraft für neue Erfahrungen und damit Erneuerung sein. Wir dürfen den Synodalen Weg als konstruktive Provokation sehen“, erklärte Schavan und fügte hinzu: „Wenn Papst Franziskus keine Erneuerung wollte, hätte er den Weltweiten Synodalen Weg nicht angestoßen.“ Sicher gebe es zwei, drei große Fragen, die ohne Rom nicht gelöst werden könnten, zum Beispiel die des Weiheamtes und die der damit verbundenen Lebensform, aber: „Es kann ganz viel vor Ort angestoßen und verändert werden. Erneuerung entsteht vor Ort.“
Erneuerung entstehe auch besonders an den Rändern der Gesellschaft. „Die Peripherie, an die wir laut Papst Franziskus als Christinnen und Christen gehen sollen, ist ein Ort der Veränderungen“, so die ehemalige Ministerin. Dabei sei die Barmherzigkeit die stärkste Kraft. „Die Kirche muss weniger Angst um sich selbst haben. Stattdessen muss sie empfindsam und aufmerksam auf die Menschen, die in unterschiedlichen Formen der Armut leben, zugehen, und ihnen zuhören.“ Dabei bezog sich die Rednerin nicht nur auf materielle Armut, sondern dehnte den Begriff aus: „Viele aus der Institution Kirche Ausgetretene sind nachwievor überzeugte Christinnen und Christen. Suchen wir auch da die Begegnung, um neue Erfahrungen zu machen. Die Taufe wird man nicht los, und ein zentrierter Klerikalismus ist nicht die Zukunft.“
Als Sinnbild für die Zeit der Erneuerung in der sich die Kirche momentan befände, wählte Schavan den Karsamstag: „Nach der Zeit der großen Gefühle, umjubelter Einzug Jesu in Jerusalem, Verrat, Verurteilung, Kreuzigung, ist der Karsamstag leer. Erschöpft. Still.“ Es stelle sich die Frage, ob wir ein neues Morgen für möglich hielten, denn „im Karsamstag steckt die Ahnung eines neuen Morgen, das sich dann in der Osternacht Bahn bricht. Zeiten des Übergangs sind keine Zeiten von Resignation, sondern solche vorsichtiger Hoffnung.“