„Betroffene fordern mit Recht Hilfe“

, Bistum Münster

„Die Kirche steht nicht an der Seite der Opfer, sie gehört zur Täterseite.“ Deutliche Worte fand Pater Klaus Mertes am 15. Februar für die Position, die der katholischen Kirche im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt und Missbrauch zugewiesen ist. Die Annahme dieser Position sei Voraussetzung für eine gelingende Aufarbeitung, so der Jesuitenpater, der seit seiner Zeit als Rektor des Canisius-Kollegs in Berlin maßgeblich zur Aufdeckung von Missbrauch in der katholischen Kirche beigetragen hat. Er war Gastredner bei einer hybriden Veranstaltung der Katholischen Hochschule (KatHo) in Münster zum Thema „Die Option für die Armen angesichts der Missbrauchskrise“. Wobei, stellte Mertes gleich zu Beginn klar, mit dem Begriff „Option für die Armen“, der aus der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung kommt, der Einsatz der Kirche für die Ausgebeuteten und Ausgeschlossenen, für die Opfer von Gewalt und Menschen­rechtsverletzungen gemeint ist.

Klaus Mertes

Pater Klaus Mertes

Er selbst habe erst in der Begegnung mit Betroffenen verstanden, was sexueller Missbrauch bedeutet und was dieser anrichtet, betonte der Jesuit in seinem Vortrag: „Hinter diesem Wissen kann man nicht wieder zurück.“ 2010 seien drei ehemalige Schüler des Kollegs zu ihm gekommen und hätten von ihrem Erlebten berichtet. „Sie haben mir ihre Geschichte erzählt, die bis dahin niemand hören wollte.“ 30 Jahre nach den Taten sollte die Öffentlichkeit davon erfahren, so der Wunsch der Männer. Ihnen war auch die namentliche Bekanntgabe der Täter wichtig.

Die Geschichten Betroffener fordern zu der Entscheidung heraus, ihnen zu glauben oder ihnen nicht zu glauben, erklärte Mertes. Das sei eine Entscheidung von existentiellem Ernst.

Die Strukturen des Mitwissen seien komplex, betonte Mertes. „Das ganze System schaut zu, manchmal sogar, ohne zu wissen, dass es zuschaut.“  Mitwissende, die bewusst weggeschaut oder vertuscht hätten, stünden in der Verantwortung. Auch diese Verantwortung könne man ausblenden. Der Bibelvers „Sie haben Augen und sehen nicht“ habe für ihn nach 2010 noch mal eine ganz neue Bedeutung bekommen.

In der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle gehe es vielen, auch Laien, eher um eine Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche: „Das ist ein institutions-narzisstisches Interesse“, bewertete Mertes diesen Ansatz. Auch das Bestreben, sich mit Betroffenen zu solidarisieren, sei ambivalent. „Es macht einen Unterschied, ob man sich mit einem Geschlagenen am Wegesrande solidarisiert, den andere zusammengeschlagen haben, oder ob man ihn selbst zusammengeschlagen hat.“ Auch die Vereinnahmung von Betroffenen durch eine theologische Sprache sei unangemessen. Nicht wenige Betroffene sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche hätten ja gerade ihren Glauben durch die Taten verloren.

Bei aller Kritik, Klaus Mertes hat auch Hoffnung, dass sich etwas ändert in der katholischen Kirche. „Es sind ja in den zurückliegenden Jahren zarte Pflänzchen gewachsen, die gehütet und gepflegt werden sollten: Die Kirche befindet sich in dem Maße, indem sie sich der Aufarbeitung stellt, auf einem Weg der Veränderung, der sie dem Evangelium näherbringt.“

Die Veranstaltung „Die Option für die Armen angesichts der Missbrauchskrise“ fand im Rahmen des Kontaktseminars Option für die Armen statt – seit 1991 an der Katholischen Hochschule am Standort Münster ein Ort der Begegnung und Fortbildung für Ordensleute, Haupt- und Ehrenamtliche aus sozialen und pastoralen Arbeitsfeldern und Studierenden der Sozialen Arbeit und Heilpädagogik unter der Federführung von Prof. Dr. Andrea Tafferner.

Gudrun Niewöhner