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DomGedanken über die Vision einer Europäischen Union

, Stadtdekanat Münster

„Wir stehen vor den Trümmern unserer Erwartungen“ – gleich zu Beginn seines Vortrags im Rahmen der DomGedanken setzt Dr. Andreas Rödder, Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, am Abend des 21. August im St.-Paulus-Dom in Münster einen starken Akzent. Der Historiker zieht an dem Abend Bilanz und skizziert zum Schluss seine Vision einer Europäischen Union (EU), die hoffnungsvoll stimmt: Die EU hat durch ihre Vielfalt und ihre historischen Errungenschaften Zukunftspotential – wenn sie sich flexibel und offen zeigt, keinen regulierenden Einheitsstaat anstrebt und historischer Realismus wie auch historisch-politische Kreativität und politischer Wille vorhanden sind und ausgebaut werden. „So weiter machen, wie bisher, das geht nicht“, macht Rödder deutlich.

Die EU sei nicht nur durch populistische Kräfte im Inneren bedrängt, sondern auch von außen; und zwar durch einen amerikanischen Präsidenten, der sie nicht als Partner versteht, einen neuerlichen Machtanspruch Russlands, ein aufstrebendes China und Migrationsbewegungen. Das zeige Prognosen auf, die ebenso düster seien, wie es die Euphorie nach 1990 nach der Unterzeichnung der „Charta von Paris für ein neues Europa“ und des Vertrags von Maastricht mit dem Streben nach einer „immer engeren Union der Völker Europas,  war, erläuterte der Historiker. „Beides, Panik und Illusion“, resümiert Rödder, „seien keine guten Ratgeber.“

Wie kann ein Europa aussehen, das funktioniert und nicht nur schützt?
Indem es sich laut dem Mainzer Historiker auf das besinnt, was es erreicht hat. „Was 1945 niemand für möglich gehalten hat, ist eingetreten: Wir haben eine völlig neue Art des Umgangs miteinander gefunden“, macht er deutlich. In Krisen – wie etwa der Finanzkrise Griechenlands – pflege Brüssel den Dialog, das Miteinander. Dazu komme der Beitrag zur Stabilisierung Ostmitteleuropas und Südosteuropas. „Die baltischen Staaten und auch Luxemburg, Belgien, Ungarn oder die Niederlande etwa empfinden sich nicht mehr als Einmarschgebiete der sie umgebenden Großmächte. Im Gegenteil, in Städten wie Riga oder Tallinn erfährt man Veränderungsdynamik und Veränderungsbereitschaft, von der das ‚Alte Europa‘ etwas lernen kann“, sagt Rödder. Mit der EU gebe es ein Mehr an Demokratie und Rechtstaatlichkeit, als ohne, macht er deutlich, auch wenn „die EU selbst keine parlamentarische Demokratie ist, so müssen doch die Mitglieder Rechtsstaaten und Demokratien sein.“ Diese Norm sei zur Normalität geworden, ebenso wie die Freiheiten, wie zum Beispiel die der Mobilität oder des Kapitals. „Das ist sowohl im historischen Maßstab als auch im internationalen Vergleich nicht selbstverständlich“, bemerkt der Historiker.

Er betonte gleichzeitig, dass man aber die Augen vor den Schwachstellen nicht verschließen dürfe.
So sei die EU kein „global player“ in der internationalen Politik. Der aktuelle Konflikt mit dem Iran und auch die Tatsache, dass alle Anläufe für eine europäische Verteidigungsgemeinschaft immer wieder scheitern zeige, dass Europa, wenn es ernst werde, uneins und international nicht handlungsfähig sei.
„Wir haben keine gemeinsame, funktionierende Asyl- und Migrationspolitik. Unterschiedliche Haltungen und politische Entscheidungen sowie sich überlagernde und blockierende Rechte verhindern das“, erläutert Rödder am Beispiel der Flüchtlingskrise 2015/2016. „Wir wissen nicht, wie wir mit Massenmigration nach Europa umgehen sollen. Der aktuelle Konflikt über Seenotrettung zeigt das.“
Die EU, so wie wir sie erwarteten, nämlich als immer enger zusammenwachsender Staatenbund, werde als alternativlos dargestellt. „Schon Helmut Kohl sagte: ‚Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa‘ – wäre das denn wirklich so gewesen?“, fragt der Historiker.

Ein „Weiter so“ könne es nach Ansicht Rödders nicht geben. Krisen – so wie von Jean-Claude Juncker vertreten – immer wieder pragmatisch zu lösen und die europäische Integration vertiefen, gehe auf Dauer nicht gut.
Der Schritt zurück – raus der EU – und auch der große Sprung nach vorn mit einer europäischen Republik oder einem europäischen Bundestaat als Ziel, sind für den Historiker nicht die Lösung. „Wollen wir die Errungenschaften der europäischen Integration in Frage stellen?“, fragt er im St.-Paulus-Dom. Dass es der EU an Voraussetzungen wie einer gemeinsamen Vorstellung von staatlicher Souveränität, dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft, von Freiheit, oder auch von der Verbindlichkeit der europäischen Verträge, sieht er als Indiz und merkt an: „Viele akzeptieren nicht, wenn wir Deutschen unsere moralischen Vorstellungen zum Maßstab für alle machen.“

Rödder wünscht sich ein flexibles, offenes Europa, das bereit ist zur „Vertiefung der Integration, da wo sie sinnvoll, und zum Rückbau, da wo er nötig ist.“ Es geht ihm um eine Union der europäischen Staaten, die sich ihre Kernaufgaben konzentriert, wo sie Mehrwert bringt. „Ermutigend Ansätze gibt es bei der Mobilität, der Digitalisierung und der Handelspolitik“, sagt er und macht zum Schluss Mut: „Warum so ängstlich, ihr Europäer? Warum vertraut ihr nicht auf die eigene Kreativität und die Kraft der europäischen Idee? Dann ist nicht nur alles offen, sondern auch vieles möglich.“

Musikalisch gestaltete Pianistin Sonja Kowollik die DomGedanken. Die Reihe setzt sich fort am 28. August, wenn um 18.30 Uhr Patricia Schlesinger, Intendatin des Rundfunks Berlin Brandenburg rbb, über „Das europäische Ideal. Eine Reflexion über ethische Verbundenheit und innere Provinzen“ spricht.

Julia Geppert