Der große Holztisch in der offenen Essküche ist der Mittelpunkt in der Jungenwohngruppe (JWG) an der Joseph-Haydn-Straße. In der gemütlich beleuchteten Essecke finden alle acht Jugendlichen, das vierköpfige Team um Leiter Stefan Hübers und sogar noch Gäste Platz. Verschiedene arabische Speisen stehen rund um den Adventskranz, in der Ecke am Fenster ist bereits Platz geschaffen für den Tannenbaum. Zwei christliche Bräuche, die die Jungen im Alter zwischen 16 und 20 Jahren bis vor kurzem noch nicht kannten. Als minderjährige unbegleitete Flüchtlinge kamen sie aus Afghanistan, Guinea, Somalia und Syrien nach Münster. Bei manchen liegt die Flucht schon einige Jahre zurück, bei anderen erst wenige Monate. Ihre Heimat ist muslimisch, ein neues Zuhause haben sie im christlich geprägten Deutschland gefunden. Für den katholischen Träger, die Kinder- und Jugendhilfe St. Mauritz, ist der interreligiöse Austausch seit Gründung der Wohngruppe vor sechs Jahren ein wesentlicher Teil des traumapädagogischen Konzeptes.
„Dass wir das Zuckerfest feiern, konnte ich das erst gar nicht glauben“, erinnert sich Hasib. Vor zweieinhalb Jahren musste der 18-Jährige seine Heimat Afghanistan verlassen. Zuflucht fand er in der Wohngruppe. „Ich habe gedacht, dass wir vielleicht einfach zusammen frühstücken. Aber wir haben ein riesiges Fest gefeiert, mit Freunden und Nachbarn“, bekommt er glänzende Augen, wenn er daran zurückdenkt. „Unsere Religion wird hier wertgeschätzt“, findet auch Omid, der inzwischen in einer eigenen Wohnung in Münster lebt, aber regelmäßig zu Besuch kommt. „Das Zuckerfest feiern wir hier in Münster fast noch mehr als Zuhause“, sagt der 19-Jährige und erntet Zustimmung per Kopfnicken.
„Am Anfang haben wir die religiösen Basics kennengelernt“, erinnert sich Zakaria, der mit seinem Einzug in die Wohngruppe zum ersten Mal erfahren hat, dass es verschiedene Religionen – und auch Nicht-Gläubige gibt. „Das war neu für mich“, sagt der Somalier, in dessen Heimat nahezu die gesamte Bevölkerung dem Islam angehört. Hübers erstellte zusammen mit den Jungen Karteikarten zu jedem christlichen und muslimischen Fest. „Die entsprechende Karte steht am Tag des Festes auf dem Tisch“, sagt der Sozialpädagoge und zeigt auf die aktuelle, die den Advent erklärt. Hochfeste wie das Zucker- und Opferfest oder auch Ostern und Weihnachten werden groß gefeiert. Ebenso der Ramadan, besonders das gemeinsame Fastenbrechen am Abend. Aber auch kleinere, traditionelle Gedenktage wie die Geburt des Propheten oder das Nikolausfest begeht die Gruppe.
Die sensible Auseinandersetzung mit den Unterschieden in Kultur und Religion gehört zum Gruppenkonzept. „Wir möchten Brücken bauen“, nennt Stefan Hübers, der mit den Jugendlichen in der Wohngruppe wohnt, das Ziel. Der Glaube an einen Gott könne eine Sinn-Ebene sein, „eine Ressource, die andere Meschen nicht haben“, so Hübers. Die damit verbundenen Rituale gäben Sicherheit und Halt, was besonders für traumatisierte Jugendliche für die Integration in ein neues soziales Umfeld wichtig sei. Eines der Rituale ist der „Engel der Kulturen“, eine künstlerische Darstellung der drei Weltreligionen, die den interreligiösen Dialog unterstützen soll und bereits in vielen Einrichtungen einen Platz gefunden hat. „Zu jedem Fest – ob christlich oder muslimisch – hängen wir den Engel der Kulturen draußen an unsere Tür“, sagt Hübers über das tellergroße Bild mit Symbolkraft.
Es ist ein gegenseitiges Lernen voneinander, da sind sich alle einig. „Nicht nur die Jugendlichen lernen unsere Kultur kennen, es gibt genug Situationen, wo auch wir zum Nachdenken angeregt werden“, sagt Betreuer Peter Reerink und erinnert sich an die ersten Einsätze im Klarastift. Regelmäßig helfen die jungen Erwachsenen in dem Altenzentrum aus – von der Rollstuhl-Putzaktion bis hin zum Mirabellen pflücken. „Die Jugendlichen haben uns zurückgespiegelt, dass sie solche Einrichtungen für alte Menschen nicht kennen. In ihrer Heimat bleiben die Menschen bis zum Lebensende in den Familien“, gibt Peter Reerink ein Bespiel, das ihn noch länger beschäftigt hat.
Die Vorfreude auf Weihnachten ist bei den Jugendlichen, die das Hochfest aus ihrer eigenen Religion nicht kennen, groß. „Sogar meine Mutter hat schon gefragt, wann wir Weihnachten feiern, sie interessiert sich sehr dafür“, berichtet Omid. An Heiligabend bauen sie draußen vor der Tür eine Krippe auf. Nach einem Krippenspiel mit den Nachbarn wird das Weihnachtsevangelium vorgelesen – und die Verse aus dem Koran, wo die Geburt des Propheten beschrieben wird. „Wir zeigen die Gemeinsamkeiten beider Religionen“, erklärt Hübers. Die Bescherung und ein festliches Essen runden den Tag ab. Auch Zakaria und Omid und andere ehemalige Jugendliche werden das Fest in der Wohngruppe verbringen. „Unsere Familie in der JWG wird immer größer“, freuen sich die Jungen. Eine schöne Beobachtung – besonders an Weihnachten, dem Fest der Familie.