„Uns bleibt nichts als die Verteidigung“

, Stadtdekanat Münster

„Es ist sonnenklar, dass etwas Barbarisches passiert: Wer Städte bombardiert, Wohngebiete beschießt, Einwohner von Lebensmitteln, Wasser und Elektrizität abschneidet, wer Infrastruktur und Kulturdenkmäler zerstört, eine demoralisierte und wild gewordene Soldateska auf arglose Bürger loslässt und sie für Mord und Vergewaltigung auch noch mit Orden auszeichnet, der geht aufs Ganze!“

Der Historiker Prof. Dr. Karl Schlögel bezeichnete Wladimir Putin im Rahmen der DomGedanken im St.-Paulus-Dom Münster als „Diktator der Postmoderne“.

© Bischöfliche Pressestelle/Simon Kaiser

Das hat Prof. Dr. Karl Schlögel zu Beginn seines Vortrags unter der Überschrift: „Russlands imperiale Idee – und was sie für uns bedeutet“ am Mittwoch im Münsterschen St.-Paulus-Dom im Rahmen der DomGedanken 2022 klar gestellt. Putin ziele mit seinem Krieg auf die totale Zerstörung der Lebensgrundlage des ukrainischen Volkes. Ein weiteres Ziel sei, die Erinnerung an diese Nation verschwinden zu lassen.

Der russische Krieg sei aber nicht Antwort auf die Demütigung einer Großmacht durch NATO-Erweiterung, durch Gefährdung der Sicherheit Russlands, durch gebrochene Versprechen, sagte der renommierte Publizist. Schlögel sieht Kriegsmotive eher in den inneren Verhältnissen Russlands, in Fragen von Macht und Machterhalt, in der sinkenden Popularität Putins. Eine Rolle gespielt hätten möglicherweise auch der eher destabilisierte Zustand der EU und die Verunsicherung des Westens nach dem Desaster von Kabul.

Der Osteuropa-Historiker erinnerte daran, dass Putin 2005 das Ende der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hatte“. Er räumte ein, dass das Ende der UdSSR und die damit verbundene Auflösung einer ganzen Lebenswelt für deren Bewohner mit vielen Verlusterfahrungen verbunden gewesen sei, aus denen heraus bei manchen der Wunsch nach einem „Comeback des Imperiums“ entstanden sei.

Im damaligen Machtvakuum sei Putin an die Macht gekommen, der jedoch nie den Mut gehabt habe, seinem Land, seinem Volk zu erklären, warum die Sowjetunion zugrunde gegangen war. Er habe vor der Wahrheit kapituliert und stattdessen behauptet, am Untergang der UdSSR seien andere schuld. Gefolgt seien die Mär von der Verschwörung der ganzen Welt gegen Russland, die Mär von der Wühlarbeit ausländischer Agenten und Spione, die Rede von der Größe und der Wiedergewinnung des Großmacht-Status, der jedoch von den USA bestritten werde. Putin habe die Bewirtschaftung des Gefühls einer Kränkung betrieben, außerdem habe er in seiner Bevölkerung Angst und Bedrohungsgefühle erzeugt, um das Land zusammen halten zu können. Putins Russland sei längst im Polizeistaat angekommen. Als wesentlichen Teil des Herrschaftsapparates sieht Schlögel auch die staatlichen Medien, die „pure, niederträchtige Kriegshetze“ betrieben.

Der Hochschullehrer von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder bestritt, dass Putins Politik sich aus russischen Denkertexten, aus einem bestimmten Staatsverständnis, aus einer Idee oder einem Mythos ableiten lasse. Mit vielen der Thesen Putins und seiner Gefolgsleute könne man sich kaum ernsthaft auseinandersetzen. Schlögel entlarvte viele Behauptungen als historisch unrichtig und die Tatsachen verdrehend, als Manipulation und Propaganda, etwa: „Der einstige Gründungsvater Lenin ist jetzt ein vom deutschen Generalstab geschickter ausländischer Agent. Und Stalin, dessen Gewaltregime Millionen von Menschen zum Opfer gefallen sind, erscheint jetzt als der große Manager des Aufstiegs und Siegs.“

Der Professor verwies darauf, dass sich in Russland im Laufe der Geschichte in den Köpfen vieler Denker, aber auch im Volk eine imperiale Idee und Mentalität herausgebildet habe. Nun werde das Zarenreich wieder zum Vorbild erhoben, allerdings mit einem „Diktator der Postmoderne“ an der Spitze. Putins Russland verstehe sich als der innere Kern einer großen Gemeinschaft, „des russischen Universums“, das über die Grenzen der aktuellen Föderation hinaus reiche: „Überall, wo russisch gesprochen wird und Russen sind, ist Russland.“ Daraus leite Russland heute ein Recht zur Intervention ab.

Unabhängige Umfragen belegten, dass eine große Mehrheit der russischen Bevölkerung den Reden ihrer Führung folge, ihr glaube und den Krieg mittrage, beklagte Schlögel. Einen offenen Dissens eine Spaltung der öffentlichen Meinung gebe es nicht, die wenigen, die opponierten, könne man fast namentlich aufzählen.

Putins Krieg sei jedoch nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, sondern gegen ganz Europa, gegen den Westen insgesamt. „Uns bleibt nichts als die Verteidigung“, stellte Schlögel fest. Was von Putins Russland zu erwarten sei, könnten man in der Ukraine sehen. „Hier geht es um Selbstbehauptung oder Unterwerfung, um Wegsehen oder Hinsehen, um Gleichgültigkeit oder um Beistand für ein angegriffenes Volk, das ein ganz normales Land sein und in Ruhe gelassen werden will“, appellierte Schlögel, „die Ukraine verteidigt uns: Es bleibt uns nichts anderes, als sie zu unterstützen, mit Waffen, mit Verbindungen, mit Wiederaufbau!“

Die Vortragsreihe DomGedanken wird fortgesetzt am 31. August mit dem bekannten Publizisten und Bestseller-Autoren Stefan Aust zum Thema „Chinas großer Plan – Eroberung auf Schienen, Schiffen, Straßen“. Zum Finale spricht schließlich am 7. September Prof. Dr. Mehrdad Payandeh, Professor für Internationales Recht, Europarecht und Öffentliches Recht an der Bucerius Law School, Hamburg, zum Oberthema der Reihe: „Wem gehört die Welt? Über die ordnende Kraft des Völkerrechts“.

Die Abende werden jeweils von thematisch passender Musik eingerahmt, dieses Mal von den Dombläsern unter Leitung von Norbert Fabritius. Für die Koordination zeichnen Domorganist Thomas Schmitz und die Dommusik verantwortlich.

Eine Platzreservierung ist nicht notwendig, der Eintritt zu der Veranstaltungsreihe, die von Evonik Industries unterstützt wird, ist frei. Die Veranstalter bitten um Spenden für die Bischof-Hermann-Stiftung. Diese bietet jährlich mehr als 1.000 Menschen Unterstützung, unter anderem mit Obdachlosenunterkünften, sozialtherapeutischen Einrichtungen und Angeboten für Migranten.

Das Bistum Münster überträgt auch die DomGedanken 2022 live ins Internet. Interessierte können sie unter www.bistum-muenster.de und www.paulusdom.de sowie auf dem Facebook- und dem YouTube-Kanal des Bistums verfolgen; auf dem YouTube-Kanal sind sie auch in einer eigenen Playlist zusammengefasst.