Nobelpreisträgerin Herta Müller eröffnet DomGedanken 2021

, Bistum Münster

Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie werden als diktatorische Eingriffe gebrandmarkt, gleichzeitig scheinen sich mehr Menschen nach autoritärer Politik zu sehnen und driften demokratische europäische Staaten ins Autoritäre ab. „Wer heute Deutschland als Diktatur bezeichnet, weiß nicht mehr, was es heißt, in einer Diktatur zu leben, und zerstört mit diesen Vorwürfen demokratische Legitimation von Politik in unserem Land“, sagt die Schriftstellerin Herta Müller. Die Literatur-Nobelpreisträgerin eröffnet am Mittwoch, 11. August, um 18.30 Uhr die diesjährigen DomGedanken im St.-Paulus-Dom Münster. Die fünfmal mittwochs stattfindende Vortragsreihe steht 2021 unter dem Leitwort „Demokratie – ein Auslaufmodell?“.

Müller stellt ihren Beitrag dazu unter den Titel„Die Zeit ist ein Dorf. Die Angst hat das kürzeste Gesicht“. Die 67-Jährige meint: Das Wissen über die Nazi-Diktatur sei nach 1945 „kommunikativ beschwiegen“ worden. Deshalb sei Naziverbrechern und -profiteuren ein fast reibungsloser Übergang in die Demokratie gelungen, während die ins Exil vertriebenen Demokraten kein Gehör gefunden hätten oder sogar verspottet worden seien. Ähnlich sei es in den ehemaligen Diktaturen des „Ostblocks“. Überall werde verdrängt, was das Leben in einer Diktatur bedeutet. „Wenn dieser Maßstab fehlt, verliert die Freiheit einer Demokratie ihren Wert“, mahnt Müller.

Die heutige Berlinerin wurde in Rumänien geboren, ihre Eltern gehörten der dortigen deutschsprachigen Minderheit an. Der Vater hatte im Zweiten Weltkrieg in der Waffen-SS gedient. Viele Rumäniendeutsche wurden 1945 in die Sowjetunion deportiert, darunter für fünf Jahre Herta Müllers Mutter, was Müller in ihrem Werk „Atemschaukel“ (2009) thematisierte. Während ihres Studiums stand die Schriftstellerin der Aktionsgruppe Banat nahe, die in Opposition zur Diktatur Ceauşescus für Meinungsfreiheit eintrat. Aufgrund ihrer Weigerung, mit der Geheimpolizei zusammenzuarbeiten, war sie Schikanen ausgesetzt.

Ihr Debüt, die Novellensammlung „Niederungen“ (1982), wurde in Rumänien zensiert herausgegeben. Zwei Jahre später erschien es unzensiert in Deutschland. Im gleichen Jahr wurde „Drückender Tango“ in Rumänien veröffentlicht. In beiden Werken schildert Müller das Leben in einem deutschsprachigen Dorf und die dortige Korruption, Intoleranz und Unterdrückung. Wegen ihrer Kritik der Diktatur erhielt sie in ihrer Heimat Publikationsverbot. 1987 emigrierte sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Richard Wagner. Ihre im Folgenden veröffentlichten Romane „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ (1992), „Herztier“ (1994) und „Heute wär ich mir lieber nicht begegnet“ (1997) vermitteln ein Bild des Alltagslebens in einer erstarrten Diktatur.

Herta Müller war Gastdozentin unter anderem in Paderborn, Warwick, Hamburg, Swansea, Gainsville (Florida), Kassel, Göttingen, Tübingen und Zürich. Seit 1995 ist sie Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt und hat zahlreiche Auszeichnungen und Literaturpreise erhalten – darunter 2009 den Nobelpreis für Literatur.

Nach dem Auftakt setzen sich die DomGedanken 2021 am 18. August mit Prof. Dr. Karl-Rudolf Korte fort. Der Direktor der NRW School of Governance und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen spricht über „Wählen und Regieren in der Coronakratie. Politologische Beobachtungen am Krisen-Rand“. Thema am 25. August mit Prof. Dr. Hedwig Richter aus München, Professorin für Geschichte an der Universität der Bundeswehr, ist „Demokratie – eine Fiktion? Warum sich eine Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte lohnt“.

Am 1. September referiert der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck über „Demokratie in Frage? Anmerkungen zur Diagnose und Therapie“. Zum Finale spricht am 8. September der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn über „Demokratie – das Fundament Europas. Anmerkungen zur Kraft freiheitlicher Staatsformen“.

Für alle Termine sind Anmeldungen unter auf der Internetseite des Doms nötig. Die Domverwaltung erteilt Zusagen mit Platzvergabe. Insgesamt sind pro Termin etwa 250 Personen zulässig. Alle Termine überträgt das Bistum Münster live im Internet. Interessierte können sie unter auf den Internetseiten des Bistums und des Doms sowie auf der Facebook-Seite und auf dem Youtube-Kanal des Bistums Münster verfolgen. Der Eintritt zu der Veranstaltungsreihe ist frei. Die Veranstalter bitten um Spenden, mit denen sie über Missio Aachen journalistische Ausbildung in Mali fördern möchten. 

Anke Lucht

Bildunterschrift: Herta Müller eröffnet am 11. August die diesjährige Auflage der DomGedanken im St.-Paulus-Dom Münster.  Foto: Laurence Chaperon