Rudolf Seiters spricht bei DomGedanken über internationale Solidarität

"Solidarische Antworten von der gesamten internationalen Gemeinschaft" auf die Not von Flüchtlingen und Vertriebenen hat am 17. August in Münster Dr. Rudolf Seiters als Präsident des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) gefordert.

Im St.-Paulus Dom sprach der frühere Kanzleramts- und Bundesinnenminister zum Auftakt der Veranstaltungsreihe DomGedanken über "Die Welt als Solidarsystem – eine Utopie?".

"Noch nie hat es eine so schnelle Abfolge von Naturkatastrophen und Bürgerkriegen gegeben wie in den letzten 15 Jahren", sagte Seiters. 65 Millionen Menschen seien heute auf der Flucht, 22 Millionen mehr als noch vor fünf Jahren. Immer mehr Menschen müssten aufgrund von Krieg, Verfolgung und Naturkatastrophen ihre Heimat verlassen. "Dies macht deutlich, dass Flucht und Vertreibung eine neue, globale Dimension erreicht haben, die solidarische Antworten von der gesamten internationalen Gemeinschaft endlich, endlich verlangt", betonte Seiters. Laut UN-Flüchtlingsbericht hielten sich die meisten Flüchtlinge außerhalb Europas auf. Im Verhältnis zur Einwohnerzahl habe der Libanon die meisten aufgenommen, "so, als wenn in Deutschland rund 30 Millionen Flüchtlinge lebten", verglich Seiters.

"Diese wachsenden Herausforderungen können von den meisten Staaten nicht allein bewältigt werden", gab er zu bedenken, "und man muss kein zivilisationskritischer Kulturpessimist sein, um zu erkennen, dass wir in den hochindustrialisierten Ländern mit verantwortlich sind für die steigende Zahl von Katastrophen." Auch ungleiche Handelsbeziehungen, schlechte Regierungen und Korruption vor Ort verschlechterten die Lebensbedingungen von Millionen.

Die aktuellen Fluchtbewegungen seien vorhersehbar gewesen. "Europa hat viel zu lange zugeschaut und war fast hilflos", kritisierte Seiters. Ausdrücklich lobte er die Helfer in der Flüchtlingsarbeit. Ohne sie wäre der Staat überfordert gewesen. Aus dem starken bürgerschaftlichen Engagement in der Flüchtlingshilfe könne die deutsche Gesellschaft auch bei künftigen Herausforderungen schöpfen. Die Zuwanderungsfrage und damit auch das Thema Integration stünden nicht nur in Deutschland für die kommenden Jahre ganz oben auf der politischen Agenda.

Integration setze bei der Bevölkerung und bei den Ankommenden gleichermaßen Bereitschaft voraus. Vor allem die Integration in den Arbeitsmarkt werde Jahre dauern. Seiters zog eine Parallele zwischen der heutigen Situation und seiner Zeit als Innenminister, als die Flüchtlingszahlen aus dem Bürgerkriegsgebiet im ehemaligen Jugoslawien anstiegen und Spätaussiedler aus Russland kamen. "Die Lage ist heute sehr viel schwieriger, weil wir nicht allein über die EU-Außengrenzen entscheiden können", betonte er, "wir brauchen deshalb europäische Antworten, und zwar im Sinne eines solidarischen Miteinanders."

Bislang hingegen habe man in Europa vor allem nationale Egoismen erlebt. "Es müssen sichere und legale Zugangswege für Schutzsuchende nach Europa geschaffen werden, damit sie nicht die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer antreten müssen", forderte Seiters, "wir brauchen in Europa ein faires Verteilsystem, eine gemeinsame europäische Gesamtkonzeption." Ebenso nötig seien "internationale Antworten über die europäische Ebene hinaus."

Mit Blick auf die Rolle des Roten Kreuzes wies Seiters auf dessen weltweite Vernetzung hin. In jedem Land könne man auf Infrastruktur der dortigen Organisation zurückgreifen. Gerade der Fall Syrien zeige aber auch die Grenzen humanitärer Hilfe auf. "Solange es keine politische Lösung unter Einbindung der regionalen wie der internationalen Akteure gibt, solange in Syrien täglich Menschen sterben und vertrieben werden, wird eine der Hauptursachen für die weltweite Fluchtbewegung nach Europa bestehen bleiben", mahnte Seiters.

Abschließend bilanzierte er, die Welt als großes Solidarsystem werde auf absehbare Zeit eine Utopie bleiben. Flüchtlingshilfe sei "ein Mosaikstein in einem Gesamtgefüge von Maßnahmen zugunsten eines funktionierenden Zusammenwirkens von im weitesten Sinne menschenrechtsfreundlichen und am Gemeinwohl orientierten staatlichen Akteuren, Nichtregierungsorganisationen und zwischenstaatlichen Einrichtungen. Wer das Wort von der weltweiten Solidarität – auch aus christlichem Verständnis heraus – ernst nimmt, muss versuchen, wenigstens einen kleinen Beitrag zu leisten für mehr Solidarität in einer globalisierten Welt", erklärte Seiters.

  • Die DomGedanken unter dem Title "Warum solidarisch?" werden jeweils mittwochs wie folgt fortgesetzt: Am 24. August spricht Prof. Dr. Thomas Straubhaar über "Diversity und Solidarität". Mit "Solidarität in Europa – enttäuschte Hoffnung?" beschäftigt sich am 31. August Armin Laschet. Am 7. September setzt sich Dr. Klaus Engel, Vorstandsvorsitzender von Evonik Industries, mit "Migration und Solidarität" auseinander. Zum Abschluss der Reihe widmet sich am 14. September Prof. Armin Nassehi dem Thema "Wir schaffen das! Politik zwischen kon-kurrierenden Solidaritäten". Beginn der einzelnen Termine der Reihe, die das Domkapitel in Zusammenarbeit mit Evonik Industries AG veranstaltet, ist jeweils um 18.30 Uhr. Der Eintritt ist frei. Im Anschluss an alle Termine sind die Besucher zu einem offenen Empfang auf dem Domplatz eingeladen.
    Sämtliche DomGedanken-Abende werden live im Internet übertragen. Interessierte können sie unter www.bistum-muenster.de , www.paulusdom.de , www.kirchensite.de und www.katholisch.de erfolgen.

Bildunterschrift: Beim Auftakt der DomGedanken 2016 sprach Dr. Rudolf Seiters im St.-Paulus-Dom.

Text: Bischöfliche Pressestelle / 18.08.16
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Foto: Sarah Stöber / Bischöfliche Pressestelle