Silvesterpredigt von Bischof Genn zur Lage in Kirche und Gesellschaft

, Bistum Münster

Für „den Vorrang christlicher Solidarität und Zuwendung gegenüber all den Wünschen, mit denen ich mir ein angenehmes Leben ausdenke und vorstelle“ hat sich Münsters Bischof Dr. Felix Genn im Dankgottesdienst am Silvester-Vormittag in der Stadt- und Marktkirche St. Lamberti in Münster ausgesprochen. Traditionsgemäß blickte der Bischof in seiner letzten Predigt des alten Jahres auf die Situation in Kirche und Gesellschaft.

Bischof Genn am Ambo, im Hintergrund leuchten Kerzen an Weihnachtsbäumen, dazwischen der Hochaltar..
© Bistum Münster

 

Die Corona-Pandemie habe viele – nicht alle – anderen Themen zurückgedrängt. Menschen seien gestorben oder in ihrer Existenz bedroht, die gesundheitlichen, ökonomischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen seien noch nicht absehbar. Trotzdem gehe es den Menschen in Deutschland vergleichsweise gut: „Damit wird nichts beschönigt und nicht gesagt, dass alle Entscheidungen richtig waren. Aber wir durften erfahren, wie politisch klare Richtlinien helfen, was ein hohes Niveau an finanziellen Mitteln zur sozialen Absicherung bedeutet.“

Der Bischof wies zudem auf die Lasten hin, die die Bewältigung der Pandemie künftigen Generationen aufbürdet. Auch die Kirche werde weiter vom Missbrauchsskandal und von Diskussionen um Veränderungen erschüttert, sodass um ihre Einheit gefürchtet werde.

Er wolle und könne nicht deuten, was Gott mit all dem sagen wolle, sagte Genn: „Ich spüre nur, dass die Kraft des Wortes Gottes, das zu verkündigen mir aufgetragen und das zu leben uns allen aufgegeben ist, gefordert ist: Kann es auch in diesem Heute von Kirche, Gesellschaft und Welt seine Kraft entfalten?“ Wer sich von diesem Wort salben lasse, habe einen Schlüssel für sein Verhalten in der Hand: „eine Sensibilität zu entwickeln, in den vielen Stimmen die Stimme dessen zu erkennen, der aufbaut und weiterhilft, der nicht einengt und ausschließt.“

Unter Bezug auf die Diskussion um assistierten Suizid fragte der Bischof, was hier christliche Wachsamkeit bedeute: „Ich denke, es bedeutet die Priorisierung der Schwachen, des nicht mehr produktiven Lebens, in allen Tendenzen des gesamten gesellschaftlichen Lebens zur Ökonomisierung.“ Wer Standards seines Lebens zu Bescheidenheit hin auflöse, gebe christlicher Solidarität und Zuwendung den Vorrang vor seinen Wünschen nach einem angenehmen Leben.

Es sei eine „auch denkerische Herausforderung, die Freiheit so zu leben, dass ich nicht total autonom bin, sondern eingebunden bin in die Fürsorge für andere, ja sogar in die Fürsorge durch andere, die ich mir erlauben darf, dass Freiheit bedeutet, den Blick für den Nächsten so zu behalten, dass ich mich in meiner Freiheit auch dadurch einschränken lassen kann.“

Auch in der Kirche frage er sich oft, wo die Grenzen der Selbstbestimmung seien und ob die Menschen damit leben könnten, in einer echten Diskussion alle eigenen Argumente benannt zu haben „und dennoch die Entscheidung derer anzunehmen, die Entscheidungen zu fällen und die Verantwortung dafür zu tragen haben.“ Darüber nachzudenken lohne sich auch im Blick auf Auseinandersetzungen im kirchlichen Raum und auf manchen Shitstorm gegenüber politischen und kirchenpolitischen Entscheidungen. Der Bischof fragte: „Was tragen wir dazu bei, die Gesellschaft nicht auseinanderfallen zu lassen? Stehen wir am Beginn dieses Jahres nicht auch vor der Herausforderung, die globale Welt, Europa, unser Land, die Kirche und nicht zuletzt die Schöpfung nicht scheitern zu lassen durch Egoismus und Konzentration auf das eigene Ich?“

Dazu gehöre die Befähigung, „sich beschränken zu lassen, Verzicht anzunehmen und bereit zu sein, über den Horizont des eigenen Lebens an die kommenden Generationen zu denken.“ Die Herausforderungen seien enorm, aber die Fähigkeiten des Menschen, der Christinnen und Christen, blieben „lebendig und kraftvoll, weil sie sich auf das Wort stützen, das lebt und bleibt. Dieses Wort hat immer weiter geholfen als kurzatmige Ideologien.“ Aus dieser Zuversicht wachse die Kraft, Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. „Das ist eine unglaubliche Kraft, die uns durch die Taufe zuteil geworden ist, die nützlich, schön und kostbar ist“, sagte der Bischof.

Seine Segenswünsche zum neuen Jahr verband er mit einem Dank an die „Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen in unseren kirchlichen Diensten und an jene Frauen und Männern, die über Gebühr im Dienst an den Kranken dieser Pandemie Liebe und Kompetenz eingesetzt haben und dabei nicht an sich, sondern an Heilung und Genesung gedacht haben.“ Angesichts dessen lasse sich ein ruhigerer Jahreswechsel ohne Böller ertragen und sei „vielleicht gefüllter mit der Hoffnung, dass dieses Wort voll Gnade und Wahrheit eigentlich der Knaller der Weltgeschichte ist.“

Anke Lucht