Die Besucherinnen und Besucher der „DomGedanken“ waren zuvor in den Genuss eines spontanen Konzertes der „Capella Ludgeriana“, dem Knabenchor am Dom, gekommen. Domkapellmeister Alexander Lauer hatte damit die Wartezeit auf den sich durch einen Stau verspätenden Referenten überbrückt. 45 Minuten später konnte Dompropst Hans-Bernd Köppen schließlich den Berliner Kultursenator begrüßen und neben der musikalischen Gestaltung auch Evonik Industries danken, deren Unterstützung die Reihe ermöglicht.
„Eine Gesellschaft gewinnt, wenn Worte nicht nur große Worte bleiben, sondern zu großen Handlungen, zu einem ‚Wir-Gefühl‘ führen“, betonte Chialo zu Beginn seines Vortrags mit der Überschrift „Auch in Deutschland – Veränderung braucht Mut“. Ein solches „Wir“, das dem eigentlichen Geist Deutschlands entspreche, vermisse er schmerzlich. „Sind es nicht gerade die Herausforderungen, die eine Gesellschaft auf das nächste Level hebt?“, appellierte er, gemeinsam eine Vorstellung des Guten zu entwickeln.
“In Münster gibt es einen Geist der Menschlichkeit, der beispielhaft ist”
„Für dieses Vorhaben ist kaum eine Stadt geeigneter als Münster“, schwärmte Chialo. Er erinnerte an die Reaktion der „Preußen Münster“-Fans auf einen Rassismusvorfall im Jahr 2020 sowie an den „Löwen von Münster“, Clemens August Graf von Galen, und seine mutigen Predigten während des Nationalsozialismus. „Hier gibt es einen Geist der Menschlichkeit, der beispielhaft ist“, sagte der Kultursenator.
Chialo hob das Privileg einer demokratischen Staatsform hervor. Was in Deutschland seit vielen Jahren selbstverständlich sei, gelte in vielen Teilen der Welt als Utopie. „Dennoch riskieren wir sehenden Auges dieses wertvolle Gut, das dürfen wir nicht zulassen“, betonte er. Zugleich kritisierte er „eine Politik, die es nicht geschafft hat, für funktionierende Strukturen zu sorgen, die eine menschliche Seite zeigt, aber es nicht schafft, mit gebotener Weise Menschen auszuweisen, die sich nicht nur nicht mit unseren Grundwerten identifizieren, sondern die terroristische Gewalttaten verüben“. Deutschland müsse Schutzraum für Geflüchtete, aber auch für die im Land Lebenden sein. „Das ist keine populistische Forderung, das ist eine Selbstverständlichkeit“, betonte Chialo.
KI zur Stabilisierung der Demokratie
Als tatsächliche Zeitenwende bezeichnete der Berliner Kultursenator die Veränderungen durch Künstliche Intelligenz (KI). Offenheit sei wesentlich, um diese technologische Revolution zu meistern. „Doch statt breit geführter Debatten erleben wir Apathie“, erklärte Chialo. Er ermutigte, Abstand zu nehmen von der in Deutschland verbreiteten Neigung, sich Schreckensszenarien auszumalen und die Zukunft voller Risiken und Katastrophen zu sehen. „Erkennen wir doch das Potenzial, wie wir KI zum Wohl der Gesellschaft, zur Stabilisierung der Demokratie nutzen können“, nannte Chialo das Einbinden der Bürgerinnen und Bürger in Entscheidungsprozesse als Beispiel.
„Überzeugte Demokraten arbeiten an sich und tragen die Bereitschaft der Erneuerung in sich“, erklärte Chialo. Technische Möglichkeiten seien dafür gern gesehen, entscheidend sei aber „eine Haltung, bei der ich in dem anderen nicht den Feind sehe, sondern den Menschen“.
Die Vortragsreihe DomGedanken, die 2024 unter dem Titel „Zeitenwende – Wie damit umgehen“ steht, wird am Mittwoch, 11. September, mit dem Beitrag „Die neue Geopolitik: Europa zukunftsfähig machen“ von Gabriel Felbermayr, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung und Wirtschaftsprofessor in Wien, beschlossen. Der Abend beginnt um 18.30 Uhr im St.-Paulus-Dom. Der Eintritt ist frei. Jedoch bitten die Veranstalter um eine Spende für die „Bischof-Hermann-Stiftung“ in Münster, die sich in Wohnungslosen-, Eingliederungs-, Jugend- und Migrationshilfe engagiert. Online wird der letzte Abend in der Reihe der DomGedanken wieder unter www.paulusdom.de und www.bistum-muenster.de übertragen.
Ann-Christin Ladermann