Biographisches Buch über Missbrauch

, Kreisdekanat Borken

Er möchte, dass über das Thema gesprochen wird, es enttabuisiert wird, in der Kirche ebenso wie in der Gesellschaft. Dafür hat Martin Schmitz seine Geschichte aufgeschrieben, mit großer Offenheit. Als Kind ist der heute 60-Jährige von einem Priester in seiner Heimatpfarrei in Rhede missbraucht worden. In dem biographischen Buch „Der dunkle Hirte“, das in der vergangenen Woche im Lübbe-Verlag erschienen ist und das der Autor in Rhede vorgestellt hat, berichtet er von den Taten – und wie sein Leben mit Selbstmordgedanken und Depressionen danach weiterging.

Martin Schmitz

Martin Schmitz ist als Kind in Rhede von Kaplan Heinz Pottbäcker missbraucht worden. Über das Erlebte und die Folgen hat er ein Buch geschrieben.

© Bistum Münster

Was er aushalten musste, davon kann Schmitz als Kind niemandem erzählen. Kaplan Heinz Pottbäcker hat es ihm verboten. Aber wahrscheinlich, sagt Schmitz, hätte ihm auch niemand geglaubt. Denn der junge Geistliche hat eine besondere Ausstrahlung, ist beliebt. Erst nimmt er den jungen Martin auf den Schoß, dann küsst er ihn. Im Ferienlager werden die Übergriffe heftiger, brutaler. Fast täglich missbraucht der Kaplan den Jungen sexuell. Zurück in Rhede gehen die Vergewaltigungen weiter. In der Sakristei. Vor und nach den Gottesdiensten. Dann ist der Kaplan auf einmal weg. Von einem auf den anderen Tag – versetzt, wie Schmitz viel später erfahren wird.

Das Martyrium ist für Martin Schmitz damit aber nicht zu Ende. Die Bilder verfolgen ihn ebenso wie Ekel und Scham. Immer wieder sieht er im Schlaf die „gierigen Augen“ des Kaplans. Sie nehmen ihm jede Lebensfreude. Um sich abzulenken, fährt der Junge stundenlang mit dem Fahrrad durch die Gegend. Auf einer seiner Touren versucht er, sich das Leben zu nehmen. Mit schmerzhaften Schürfwunden kommt er nach Hause, seinen Sprung vom Betonsilo verschweigt er der Mutter.

„Ich habe versucht, alles zu verdrängen“, beschreibt Martin Schmitz die folgenden Jahre. Die Erinnerungen verschwimmen, er lernt den Tischlerberuf, macht das Fachabitur und beginnt in Kassel mit dem Architekturstudium. Dort sieht er jemanden, der 1:1 seinem Täter gleicht: „Von einem Moment auf den anderen konnte ich nicht mehr denken.“ Schmitz verlässt fluchtartig die Hochschule. Für immer.

40 Jahre nach dem Missbrauch betritt Schmitz wieder die Kirche von damals. Zur Beerdigung seiner Mutter. Auf einmal sind alle Erinnerungen da: „Ich habe ihn gehört, gerochen... Ich habe versucht, an anderes zu denken... doch da war sein Gesicht. Alles war so lebendig. Ich war der kleine Martin.“

Danach stellt sich Schmitz seiner Geschichte. Eine jahrelange Therapie sowie die Hilfe seiner Frau und der beiden Söhne helfen ihm schließlich. Flashbacks und Albträume hat der 60-Jährige bis heute. Seinen Betrieb muss er aufgeben – so hat der Missbrauch für ihn über die psychischen Verletzungen hinaus auch handfeste existenzielle Auswirkungen.

Martin Schmitz hat sich ans Bistum Münster gewandt und Kontakt zur Pfarrei in Rhede aufgenommen. Er bekommt große Unterstützung von Pfarrer Thorsten Schmölzing. Vor Ort setzt sich ein Aufarbeitungsprozess in Gang, eine Selbsthilfegruppe für Betroffene wird in Rhede gegründet. Schmitz ist auf vielen Ebenen bei der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche engagiert, sein Wort sehr gefragt. Und doch geht ihm die Aufarbeitung zu langsam voran. Vor allem aber wünscht er sich systemische Konsequenzen aus dem Missbrauch – ein Missbrauch, der sein Leben prägte und weiter prägt.

Gudrun Niewöhner