Bischof Genn äußert sich zu Konsequenzen aus Studie

In einer Pressekonferenz am 17. Juni 2022 hat Bischof Dr. Felix Genn Konsequenzen aus der Untersuchung eines Forschungsteams der Westfälischen-Wilhelms-Universität zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster angekündigt. Seine Stellungnahme im Wortlaut (hier auch als PDF zum Download):

Bischof Dr. Felix Genn

© Bistum Münster/Achim Pohl

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich begrüße Sie hier in Münster und an den Bildschirmen zu dieser Pressekonferenz.

Ich weiß, dass auch Betroffene sexuellen Missbrauchs diese Pressekonferenz im Internet verfolgen. Daher möchte ich zu Beginn noch einmal an das anknüpfen, was ich schon am Montag bei der Entgegennahme der Studie der WWU Münster zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum Münster gesagt habe: Als Priester und Bischof bin ich  – unabhängig von den Fehlern, die ich persönlich gemacht habe – Teil der Organisation, aus der die Täter kamen und kommen. Ich möchte mich wirklich davor hüten, das zu übersehen. Alles andere wäre, so hat es Klaus Mertes zutreffend formuliert, „eine Verkennung der kirchlichen Rolle“.

Nach meiner Ansicht haben die Betroffenen neben dem Anspruch auf eine unabhängige Aufarbeitung vor allem einen Anspruch auf ein verändertes Verhalten kirchlicher Verantwortungsträger. Sie haben einen Anspruch, so habe ich es am Montag formuliert, auf das Eingeständnis von Fehlern, auf ehrliche Reue und wirkliche Umkehr. Was das aus meiner Sicht konkret heißt, werde ich gleich benennen.

Manche Betroffenen, das weiß ich aus Gesprächen, können Bitten um Entschuldigung nicht mehr hören. Anderen sind sie sehr wichtig. Nur, weil ich für mich nach einer hoffentlich umfassenden Gewissensprüfung sagen kann, dass dies für mich ein aufrichtiges Bekenntnis ist, wage ich es heute, alle Menschen, die durch sexuellen Missbrauch durch Priester und andere kirchliche Mitarbeitende im Bistum Münster großes Leid erfahren haben, um Entschuldigung zu bitten. Auch bitte ich alle Menschen um Entschuldigung, die unter Vertuschungen durch kirchliche Verantwortungsträger gelitten haben und zum Teil bis heute darunter leiden. Zugleich weiß ich, um es noch einmal mit Klaus Mertes zu sagen, dass es eine „unauflösbare Unzufriedenheit“ von Betroffenen geben kann; ich möchte mich, um weiter bei seinen Worten zu bleiben, hier vor einem „Harmoniezwang“ hüten.

In den vergangenen Tagen habe ich die Studie so gründlich, wie das in der Kürze der Zeit möglich war, gelesen. Nach der Lektüre der Studie möchte ich zunächst mit Nachdruck noch einmal das betonen, was ich ebenfalls bereits am Montag gesagt habe: Mein Respekt gilt den Betroffenen, die bereit waren, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der WWU ihre Leidensgeschichten zu erzählen. Mein Dank gilt den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für ihre Arbeit an der Wahrheitsfindung. Die Verbrechen sexuellen Missbrauchs und ihre Vertuschung durch kirchliche Verantwortungsträger müssen in völliger Unabhängigkeit von kirchlichen Institutionen umfassend, seriös und fundiert aufgearbeitet werden – das ist meine feste Überzeugung. Auf eine solche Aufarbeitung haben alle, und haben insbesondere die Betroffenen sexuellen Missbrauchs einen Anspruch. Genau das hat das Team der WWU geleistet und sichergestellt.

 

Studie zeigt Diskrepanz zwischen Predigen und Handeln auf

Dabei sind die Wissenschaftler der WWU anders vorgegangen als Verantwortliche für Gutachten, die Sie bisher aus anderen Bistümern kennen. Die Studie der WWU hat einen ganzheitlichen Ansatz, den ich sehr begrüße. Ziel war und ist es, ein möglichst umfassendes qualitatives und quantitatives Bild des Ausmaßes sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen durch katholische Kleriker im Bistum Münster zu gewinnen und zu vermitteln. An selbstausgewählten Beispielen haben die Wissenschaftler die innerkirchliche Umgangsweise mit Betroffenen und Beschuldigten rekonstruiert. Das, was die Wissenschaftler im Blick auf Beschuldigte und kirchliche Verantwortungsträger darstellen, zeugt von einer massiven Diskrepanz zwischen Predigen und Handeln, zwischen dem, was kirchliche Verantwortungsträger die Menschen lehrten, und den Maßstäben, die sie an sich selbst anlegten.

Ich habe auch das Folgende bereits am Montag gesagt, möchte es aber noch einmal ausdrücklich unterstreichen: Selbstverständlich übernehme ich die Verantwortung für die Fehler, die ich im Umgang mit sexuellem Missbrauch gemacht habe. Ich war und bin Teil des Systems, das sexuellen Missbrauch möglich gemacht hat. Das bin ich seit vielen Jahren an verantwortlicher Stelle: als Regens in Lantershofen und Weihbischof in Trier, als Bischof von Essen und von Münster. Von daher habe ich neben der persönlichen auch eine institutionelle Verantwortung. In dieser doppelten Hinsicht trage ich eine Mitverantwortung für das Leid von Menschen, die sexuell missbraucht wurden.

Welche persönlichen Fehler meine ich? Ich kann das nur beispielhaft benennen. Als Bischof von Essen hatte ich etwa mit dem Fall des Priesters H. zu tun, der im Gutachten der Erzdiözese München und Freising ausführlich dargestellt wird: ein mehrfacher Missbrauchstäter, der von Essen nach München und Freising versetzt worden war, lange bevor ich Bischof von Essen wurde. In diesem Fall habe ich mich auf das verlassen, was die Verantwortlichen in München mir zugesagt haben. Das war rückblickend ein Fehler. Auch als Bischof von Münster habe ich im Umgang mit sexuellem Missbrauch Fehler gemacht. Die Studie zeigt das beispielhaft; ich selbst habe es schon mehrfach öffentlich eingeräumt. Insbesondere war ich in den Anfangsjahren als Bischof von Münster bei manchen Auflagen, die ich Beschuldigten gemacht habe, zu milde und habe nicht hart genug durchgegriffen. In einzelnen Fällen waren die Auflagen nicht genau genug formuliert oder wurden nicht hinreichend kontrolliert. Auch habe ich Pfarreien nicht rechtzeitig oder hinreichend über Missbrauchstäter, die bei ihnen im Einsatz waren, informiert. Aus diesen Fehlern habe ich gelernt und bereits Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass sich diese Fehler nicht wiederholen.

Bischof Dr. Felix Genn

Bevor ich erläutere, was das im Blick auf eine nötige Umkehr heißt, erlauben Sie mir, dass ich auf einige Aspekte hinweise, die mir beim Lesen der Studie noch einmal deutlich geworden sind. Die Studie bestätigt auf erschreckende Weise das, was wir schon aus anderen Untersuchungen und durch die Schilderungen von Betroffenen wissen:

  • Menschen, insbesondere Kinder und Jugendliche, haben durch Priester  unvorstellbares Leid erlitten, ganze Leben wurden zerstört.
  • Priester in verantwortlicher Position, vor allem Bischöfe, Generalvikare und Personalverantwortliche, haben auch im Bistum Münster den Schutz des Ansehens der Institution Kirche sowie den Schutz von Priester-Tätern und des Priester-Standes über die Sorge um das Wohlergehen von Menschen und über den Schutz der Betroffenen gestellt. Es fehlte ihnen jede Empathie und jedes Bewusstsein für das Leid, das Priester Menschen angetan haben. Und sie ignorierten, dass sie Menschen durch ihr Verhalten weiteren Gefährdungen aussetzten. Diese Verantwortungsträger sorgten dafür, dass sich weder das Verhalten der Täter noch der Institution Kirche dauerhaft änderte. Sie haben aus meiner Sicht menschlich und moralisch versagt, weil sie das Leid der Betroffenen nicht gelindert, sondern vergrößert haben. Das ist entsetzlich, das ist beschämend, das bleibt für mich unbegreiflich.
  • Diese Priester in verantwortlicher Position in der Münsteraner Bistumsleitung haben dafür gesorgt, dass Täter ihre Verbrechen ungehindert fortsetzen und weitere begehen konnten: Sie sind so – völlig unabhängig von einer juristischen Bewertung – zu Mittätern bei Verbrechen geworden, die schändlicher und widerwärtiger nicht sein können. Hierdurch wurde Leid nicht gelindert, sondern vermehrt. Es wurden weitere Menschen in Gefahr gebracht und Verbrechen ermöglicht.
  • Die Studie wirft ein erschreckendes Licht auf die institutionellen und systemischen Faktoren sexuellen Missbrauchs, auf die verheerenden Auswirkungen einer rigiden Sexualmoral, eines völlig überhöhten Priesterbildes, eines geschlossenen Systems, das wesentlich von Männern geprägt und bestimmt war, einer gänzlich falsch verstandenen Mitbrüderlichkeit und einer bewusst geschaffenen Intransparenz im Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs.  
  • Die Studie bestätigt erneut: Sexueller Missbrauch ist immer auch Missbrauch von Macht. In der katholischen Kirche wurde er durch ein gänzlich fehlgeleitetes Verständnis von Autorität und Hierarchie, das sich insbesondere in einem überhöhten Priesterbild zeigte, begünstigt. Damit muss Schluss sein. Jede Form von Klerikalismus muss ein Ende haben.

Sytemische Ursachen bekämpfen

Welche Konsequenzen ziehe ich daraus für den Umgang im Bistum Münster mit Fällen sexuellen Missbrauchs? Lassen Sie mich zunächst Folgendes betonen:
Es gibt inzwischen viele Studien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche. Alle diese Untersuchungen, die MHG-Studie vom Herbst 2018, die Untersuchungen aus anderen Bistümern, der Zwischenbericht, den die Wissenschaftler der WWU Ende 2020 vorgestellt haben und zuletzt im Frühjahr dieses Jahres die Publikation „Katholische Dunkelräume“, kamen zu eindeutigen Ergebnissen. Das gilt sowohl im Blick auf die systemischen und strukturellen Ursachen, die sexuellen Missbrauch begünstigt und ermöglicht haben, als auch hinsichtlich der persönlichen Verantwortlichkeiten. Von daher fragen Betroffene, aber auch die Öffentlichkeit nach meiner Einschätzung immer wieder zu Recht: Warum warten die heutigen Verantwortlichen in der katholischen Kirche mit Konsequenzen, bis durch Studien und Untersuchungen die genauen Erkenntnisse für das jeweilige Bistum vorliegen? Es ist doch vieles bereits bekannt.

Das sehe ich auch so. Bevor ich daher beispielhaft Punkte nennen werde, die zeigen, dass wir uns im Bistum Münster dem Kampf gegen sexuellen Missbrauch schon länger stellen, möchte ich aber zunächst sagen, welche weiteren Konsequenzen ich für das Bistum Münster ziehen werde. Dabei komme ich zunächst zu den Maßnahmen, die bei der Bekämpfung der systemischen Ursachen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche im Bistum Münster helfen sollen.  

  • Sexueller Missbrauch ist – ich habe es gerade schon gesagt – immer auch Missbrauch von Macht. Ich möchte Macht abgeben und zugleich meine Rolle schärfen. Als Bischof bin ich Seelsorger und „Mitbruder“, zugleich aber auch Vorgesetzter und Richter. Das empfinde ich als problematisch. Und wenn ich es richtig verstehe, sehen die Wissenschaftler das auch so, sprechen sie doch von einer „Rollenüberfrachtung des bischöflichen Amtes“.
    Manche von Ihnen wissen vermutlich, dass es seit vielen Jahren eine Diskussion über kirchliche Verwaltungsgerichte gibt. Ziel solcher kirchlichen Verwaltungsgerichte ist es, Menschen die gerichtliche Überprüfung ihrer Rechte gegen einen sie betreffenden kirchlichen Verwaltungsakt zu ermöglichen. Eine kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit ist von daher keine Straf- oder Disziplinargerichtsbarkeit – gerade auch bei Fällen sexuellen Missbrauchs. Aber sie macht kirchliche Verwaltungsakte durchschaubarer, transparenter und rechtlich überprüfbar. Gern und freiwillig stelle ich mich den Urteilen solcher Verwaltungsgerichte und damit einer unabhängigen Kontrollinstanz. Dabei ist es mir wichtig, dass das kirchenrechtlich auf sicheren Füßen steht.
    Ich habe daher den emeritierten Münsteraner Kirchenrechtler Prof. Klaus Lüdicke gebeten, zu prüfen, wie und unter welchen Umständen eine vorübergehende diözesane kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit im Bistum Münster jetzt schon eingeführt werden könnte, obwohl es noch keine Festlegungen hierzu aus Rom und auf Ebene der Deutschen Bischofskonferenz gibt. „Vorübergehend“ auch deshalb, weil ein Vorschlag der Deutschen Bischofskonferenz zur Einführung einer bundesweiten kirchlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit bereits zur Prüfung in Rom liegt. Wenn diesem Votum der Deutschen Bischofskonferenz entsprochen wird, würde sich das Bistum Münster selbstverständlich an einer bundesweiten Regelung beteiligen.
    Prof. Lüdicke hat sich bereits intensiv mit dem Thema befasst. Er hat zugesagt, dass er bis Ende dieses Jahres zu Ergebnissen kommen wird.
  • Weiter möchte ich Macht abgeben, indem ich die Gremienstruktur in unserem Bistum neu ordnen werde. Die Planungen hierzu haben mit dem sogenannten Prozess zur Entwicklung pastoraler Strukturen bereits begonnen. Hierbei möchte ich berücksichtigen, welche Überlegungen im Rahmen des Synodalen Wegs für die Bistümer angestellt werden. Meine Perspektive ist dabei klar: Obwohl kirchenrechtlich die Letztverantwortung in vielen Fragen beim Bischof bleiben wird, bin ich bereit, mich im Rahmen einer Selbstverpflichtung an die Entscheidungen diözesaner Gremien zu binden und das auch verbindlich festzuschreiben.
  • Personalentscheidungen im Bistum Münster sollen in Zukunft transparenter, nachvollziehbarer und partizipativer getroffen werden. Die Wissenschaftler der WWU sprechen von „männerbündischen Strukturen“, die mit dazu geführt haben, dass Missbrauchstäter von den früheren Personalverantwortlichen des Bistums Münster immer weiter eingesetzt wurden. Wir müssen diese Strukturen aufbrechen. Wichtig scheint mir dabei die Zusammensetzung und Arbeitsweise der Personalkonferenz zu sein. In dieser sitzen bis heute im Bistum Münster nur Männer und überwiegend Priester. Es liegen bereits Vorschläge vor, wie das im Sinne von mehr Transparenz, mehr Beteiligung und auch mehr Geschlechtergerechtigkeit geändert werden kann. Diese Vorschläge werde ich noch mit den Räten der pastoralen Berufsgruppen sowie mit den beteiligten Mitarbeitervertretungen besprechen. Zudem werde ich die unabhängige Aufarbeitungskommission bitten, ein Votum zu diesen Vorschlägen abzugeben. Dann werde ich das umsetzen.
  • Die Studie kritisiert an vielen Stellen, dass es keine hinreichende Kontrolle der Auflagen gab, die Beschuldigten oder Tätern gemacht wurden. Im Rahmen des Synodalen Wegs gibt es den Handlungstext „Prävention und Umgang mit Tätern“. Jedem Täter und Beschuldigten wird dabei ein so genannter „Fall-Manager“ zugewiesen. Die Bezeichnung müsste man vielleicht noch einmal überdenken. Diese Person soll unter anderem regelmäßig überprüfen, dass die Auflagen, die Beschuldigten und Tätern gemacht werden, eingehalten werden. Im Bistum Münster wird ab dem 1. Januar 2023 eine Person im Einsatz sein, die überprüfen wird, dass die Auflagen, die ich Klerikern in Dekreten gemacht habe, eingehalten werden.
  • Jeder weiß, wie schwierig es sein kann, die richtigen Maßnahmen bei übergriffigen, grenzverletzenden Verhaltensweisen zu treffen, die im strafrechtlichen Sinn keinen „sexuellen Missbrauch“ darstellen, die aber inakzeptabel sind und bei Betroffenen oft tiefe Verletzungen hinterlassen. In diesem Zusammenhang rückt zunehmend der sexuelle Missbrauch an Erwachsenen in den Fokus, die in Abhängigkeitsverhältnissen zu den Tätern stehen. In solchen Fällen bitte ich den unabhängigen Beraterstab zu Fragen des Umgangs mit sexuellem Missbrauch im Bistum Münster, mir Empfehlungen für mein Vorgehen auszusprechen. Ich verpflichte mich, diesen Empfehlungen zu folgen.
  • Die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Bistum Münster geht nach der Veröffentlichung der Studie der WWU weiter. Auch im Bistum Münster soll eine Aufarbeitungskommission eingerichtet werden. Eine entsprechende Vereinbarung gibt es in einer gemeinsamen Erklärung des früheren Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, und des Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Stephan Ackermann.
    Inzwischen gibt es sieben Personen, die bereit sind, in einer solchen Kommission im Bistum Münster mitzuwirken. Es handelt sich um: Prof. Thomas Großbölting (Historiker), Regina Laudage-Kleeberg (Religionswissenschaftlerin), Prof. Christian Schrapper (Pädagoge, von der Landesregierung NRW benannter unabhängiger Experte), Prof. Thomas Schüller (Kirchenrechtler; auch in der Funktion als Sprecher des Beraterstabes im Bistum Münster), Bernhard Theilmann (Betroffener, Handwerksmeister), Sara Wiese (Betroffene, Sozialpädagogin) und Birgit Westers (Landesrätin Dezernat Jugend und Schule, Landschaftsverband Westfalen-Lippe, von der Landesregierung NRW benannte unabhängige Expertin).
    Diese Personen werden in Unabhängigkeit vom Bistum – aber mit der erforderlichen Unterstützung – diese schwierige Arbeit angehen. Es ist mit dieser Gruppe, die sich noch nicht offiziell konstituiert hat, abgesprochen, dass ich formell die einzelnen Personen nicht in meiner Funktion als Bischof berufen werde. Das könnte erneut als Zeichen der Abhängigkeit verstanden werden. Ich werde vielmehr als Bischof das Angebot dieser sieben Personen annehmen, in der Aufarbeitungskommission mitzuwirken.
    Die Gruppe formuliert aktuell ihr Selbstverständnis, beschreibt aus ihrer Sicht den Gegenstand, die Aufgaben und die notwendige Ausstattung für eine unabhängige Aufarbeitung im Bistum Münster. Auf dieser Basis wird sie sich dann konstituieren. Ich hoffe sehr, dass dies in einigen Wochen der Fall sein wird. Sie werden dann darüber unterrichtet werden.
  • Ohne der Aufarbeitungskommission vorzugreifen, ist aus meiner Sicht bei der weiteren Aufarbeitung das Folgende wichtig:
    o    Der Blick sollte systematisch auch auf sexuellen Missbrauch in Ordensgemeinschaften, Internaten und anderen kirchlichen Einrichtungen im Bistum Münster gerichtet werden. Dabei sollte die Aufarbeitung über den Kreis der Kleriker hinausgehen. Ich werde diesbezüglich Gespräche mit den jeweils Verantwortlichen suchen.
    o    Es könnte hilfreich sein, das sogenannte Dunkelfeld sexuellen Missbrauchs wissenschaftlich abgesichert in den Blick zu nehmen.
    o    Für Betroffene, deren Leidensgeschichte nicht in Form eines Fallbeispiels in der Studie der WWU aufgegriffen wird, kann es wichtig sein, dass es noch weitere Fallstudien gibt. Wenn Betroffene im Bistum Münster das möchten, sage ich seitens des Bistums unsere Unterstützung zu.
  • Sie wissen, dass die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs auf Ebene der Deutschen Bischofskonferenz im September auf eine neue Basis gestellt werden soll. Ich werde mich dafür einsetzen, den Staat künftig stärker zu beteiligen und bei der Aufarbeitung mit in die Pflicht zu nehmen. Vielleicht könnte diese Aufarbeitung im Amt der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs gesetzlich verankert werden.
  • Es gibt Überlegungen, neben den schon vorhandenen Therapie-Angeboten zusätzlich das Angebot einer traumasensiblen Begleitung für Betroffene zu machen.
  • Ebenso ist angedacht, eine vom Bistum völlig unabhängige Beratungsstelle für Betroffene einzurichten. Wie das erfolgen kann, soll gemeinsam mit Betroffenen überlegt werden. Ich hoffe, dass wir hier noch in diesem Jahr zu einer Lösung kommen.
  • Die Studie nennt vereinzelte Fälle, in denen es möglicherweise Fehler im Verfahren gab, etwa im Blick auf die Meldung nach Rom. Ich werde diese Fälle noch einmal unmittelbar überprüfen lassen und da, wo es notwendig ist, die gebotenen Maßnahmen ergreifen.
  • Unmissverständlich erklären möchte ich noch einmal, was im Bistum Münster gilt: Priester und andere Seelsorgerinnen und Seelsorger, die Kinder, Jugendliche oder Erwachsene sexuell missbraucht haben, werden nicht mehr in der Seelsorge eingesetzt, weder in Pfarreien noch in Einrichtungen. Kirchliche Mitarbeitende, die nicht in der Seelsorge eingesetzt sind und Menschen sexuell missbrauchen, müssen mit harten arbeitsrechtlichen Sanktionen rechnen.
  • Insgesamt werden wir regelmäßig transparent machen, wie weit wir in der Umsetzung der hier genannten Maßnahmen sind.
  • Die Studie benennt neben den systemischen und strukturellen Ursachen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche im Bistum Münster auch persönliche Verantwortlichkeiten. Auch darauf möchte ich nun eingehen.
  • Ich selbst hätte in einigen Situationen anders handeln müssen. Vielleicht erwarten manche, dass ich aufgrund der Fehler, die ich eingestanden habe, zurücktreten müsse. Soweit ich selbst das überhaupt für mich beurteilen kann, glaube ich nicht, dass ich sexuellen Missbrauch vertuscht habe und die Interessen der Institution über die Sorge um die Betroffenen gestellt habe. Ich möchte daher die mir verbleibende Amtszeit als Bischof von Münster mit höchstem Engagement nutzen, weiterhin und verstärkt auf das zu hören, was Betroffene und unabhängige Gremien mir für den Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum Münster empfehlen und versuchen, das umzusetzen. Meine Zielperspektive wird dabei sein, sexuellen Missbrauch zu vermeiden.
  • Meine verstorbenen Amtsvorgänger Reinhard Lettmann, Heinrich Tenhumberg und Michael Keller haben im Umgang mit sexuellem Missbrauch schwere Fehler gemacht. Sie ließen sich von einer Haltung leiten, die den Schutz der Institution im Blick hatte, nicht aber die Betroffenen. Diese Bischöfe sind in der Bischofsgruft im St.-Paulus-Dom beigesetzt. Andere Verantwortungsträger, die sexuellen Missbrauch vertuscht haben, sind an vielen anderen Orten beigesetzt, die Weihbischöfe Josef Voß und Laurenz Böggering etwa auf dem Domherrenfriedhof des St.-Paulus-Doms. Ich werde die Toten ruhen lassen, die Wahrheit aber muss ans Licht. Wie dies genau erfolgen und was dafür eine gute und angemessene Form sein kann, soll mit Betroffenen sexuellen Missbrauchs abgesprochen werden. Bis diese Überlegungen abgeschlossen sind, bleibt die Bischofsgruft geschlossen.
  • Dem früheren Erzbischof von Hamburg, Werner Thissen, der zuvor Weihbischof und Generalvikar im Bistum Münster war, wird in der Studie ein deutliches Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bistum Münster nachgewiesen. Ich habe mit Werner Thissen in dieser Woche gesprochen. Er bekennt sich, was er bereits öffentlich getan hat, zu diesen schweren Fehlern.
  • Auch dem emeritierten Domkapitular Theodor Buckstegen, der von 1986 bis 2009 Leiter der Hauptabteilung Seelsorge-Personal im Bischöflichen Generalvikariat war, wird in der Studie ein massives Fehlverhalten im Umgang mit sexuellem Missbrauch nachgewiesen. Theodor Buckstegen hat mich gebeten, ihn als Domkapitular zu entpflichten. Ich werde dieser Bitte nachkommen.

Einige Schritte bereits umgesetzt

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich habe nicht die Veröffentlichung der Studie am vergangenen Montag abgewartet, um für das Bistum Münster Konsequenzen zu ziehen. Vielmehr habe ich damit bereits vor Jahren begonnen. Wenn ich im Folgenden einige Maßnahmen nenne, höre ich von manchem aber vielleicht schon den Vorwurf: „Genn tut so, als sei im Bistum Münster beim Umgang mit sexuellem Missbrauch alles bestens und erledigt“. „Bestens“ ist es aber bei weitem noch nicht. Und „erledigt“ wird dieses Thema nie sein.
Lassen Sie mich von daher einige schon umgesetzte Schritte erwähnen:

  • Bereits im Zuge der Veröffentlichung der MHG-Studie wurden alle Akten, die Hinweise auf ein Missbrauchsgeschehen enthalten, der Staatsanwaltschaft Münster übergeben.  
  • Natürlich haben wir die Aktenführung professionalisiert und an die allgemein gültigen Standards angepasst.
  • Wir ermöglichen inzwischen allen Betroffenen, soweit das datenschutzrechtlich möglich ist, die Einsichtnahme in die beim Bistum Münster vorliegenden Akten, die ihren „Fall“ betreffen.
  • Vor gut drei Jahren habe ich eine Interventionsstelle im Bistum Münster eingerichtet. Sie ist weisungsunabhängig. Ihr Kernauftrag ist es, dass den Anliegen der Betroffenen ausreichend Aufmerksamkeit gegeben und Rechnung getragen wird. Zuletzt hat die Einrichtung einer solchen Stelle die Kanzlei Westphal Spilker Wastl in ihrer Studie zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum München-Freising im Januar dieses Jahres empfohlen. Ich bin dankbar für die Arbeit, die die Interventionsstelle seit April 2019 in unserem Bistum leistet.  
  • Im März vergangenen Jahres habe ich eine Stelle für Diversität in unserem Bistum eingerichtet. Das ist ein ganz praktischer Ausdruck davon, dass ich und andere Verantwortungsträger in der katholischen Kirche – und letztlich auch das so genannte kirchliche Lehramt – ein neues Verständnis von den vielfältigen sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten brauchen.
  • Seit Anfang dieses Monats gibt es im Bistum Münster eine Referentin für Sexuelle Bildung. Der Mangel an qualifizierter sexueller Bildung ist, das hat unter anderem die MHG-Studie benannt, ein Risikofaktor für sexuelle Gewalt. Auch die Studie der WWU macht sehr deutlich, wie problematisch es ist, wenn Sexualität vor allem als sündhaft angesehen wird und wenn über Sexualität nicht gesprochen werden kann. Dem möchte ich für das Bistum Münster mit der neuen Stelle nachhaltig entgegenwirken.
  • Ich trete im Bistum Münster für eine Haltung der Null-Toleranz gegenüber geistlichem Missbrauch ein. Wie manche von Ihnen wissen, habe ich im vergangenen Jahr den kirchlichen Verein „Totus Tuus Neuevangelisierung“ aufgelöst, weil es dort zu geistlichem Missbrauch kam. Zugleich möchte ich Menschen, die von geistlichem Missbrauch in katholischen Gemeinschaften betroffen sind, ermutigen, sich an die Ansprechpartnerin, die wir dafür im Bistum haben, zu wenden. Wir werden unsere Anstrengungen in diesem Feld weiter verstärken. Ziel ist die Einrichtung einer Clearingstelle, die mit Experten aus unterschiedlichen Professionen besetzt ist.
  • Gespräche mit Betroffenen sexuellen Missbrauchs haben in der Priesterausbildung inzwischen ihren festen Platz. In der Priesterausbildung im Bistum Münster spielen die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität und Ausbildungselemente zur menschlichen Reife inzwischen eine sehr wichtige Rolle. Das gilt für alle Phasen der Ausbildung, es beginnt schon im Bewerbungsverfahren und setzt sich nach der Priesterweihe fort. Auch in der Ausbildung der Ständigen Diakone sowie der Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten spielt das Thema des Umgangs mit sexuellem Missbrauch bereits eine wichtige Rolle.
  • Ich habe entschieden, dass ich für das Bistum Münster keinen Betroffenenbeirat oder Betroffenenrat einrichten oder Betroffene in ein solches Gremium berufen werde – im schlimmsten Fall sogar noch nach einem Auswahl- oder Bewerbungsverfahren. Das möchten die Betroffenen, mit denen ich im Kontakt bin, verständlicherweise nicht. Stattdessen beschreiten wir im Bistum Münster den Weg einer völlig bistumsunabhängigen, selbst organisierten Betroffenenbeteiligung.
  • Auch der Beraterstab zum Umgang mit sexuellem Missbrauch ist bereits seit einigen Jahren mit Menschen besetzt, die unabhängig vom Bistum sind. Bis April 2019 waren gut die Hälfte der berufenen Personen Mitarbeitende des Bischöflichen Generalvikariates. Die jetzt mitwirkenden Personen stehen in keinem Abhängigkeitsverhältnis zum Bistum Münster. Sie beraten mich beim Umgang mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs und beim Vorgehen, wenn es Meldungen sexuellen Missbrauchs oder von Grenzüberschreitungen gibt.
  • Mehr als 50.000 Mitarbeitende, darunter alle Seelsorgerinnen und Seelsorger, haben seit 2011 im Bistum Münster an Präventionsschulungen teilgenommen. Diese Schulungen werden alle fünf Jahre wiederholt. Zudem müssen im Bistum Münster alle Pfarreien und caritativen Einrichtungen Institutionelle Schutzkonzepte erstellen, die Teil der Präventionsarbeit sind. Die Entwicklung solcher Konzepte dient dazu, die intensive Auseinandersetzung zu Fragen des Schutzes vor grenzverletzendem Verhalten und sexualisierter Gewalt anzuregen, die Einführung von Maßnahmen zur Prävention zu unterstützen und diese in einem Gesamtkonzept zu bündeln.
  • Heute haben wir im Internet ein Portal gestartet, über das Betroffene sexuellen Missbrauchs oder Zeugen mögliche Fälle sexuellen Missbrauchs anonym melden können. Ich weiß, dass es vielen Betroffenen schwerfällt, von ihrem Missbrauch zu berichten. Über dieses Portal können sie das völlig anonym tun. Als Bistum haben wir keine Möglichkeit, die Identität der Meldenden festzustellen. Jede Meldung eines möglichen sexuellen Missbrauchs wird der Staatsanwaltschaft Münster übergeben. Das Portal ist über die folgende Internetadresse erreichbar: anonym-missbrauch-melden.de
  • Ich habe unmittelbar am vergangenen Montag die Studie der WWU dem Münsteraner Oberstaatsanwalt Dr. Michael Kruse zukommen lassen mit der Bitte, sie im Blick auf mögliche strafrechtlich relevante Vorgänge zu prüfen und zu bewerten.

Sehr geehrte Damen und Herren,
ich habe nun eine ganze Reihe einzelner Konsequenzen genannt, die ich als Bischof von Münster mit Unterstützung meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kampf gegen sexuellen Missbrauch im Bistum Münster ziehen werde und bereits umgesetzt habe. Diese Maßnahmen können hoffentlich auch einen Beitrag zu einer Erneuerung der Kirche leisten, die wir aus meiner Sicht dringend benötigen. Das, so habe ich es heute auch in einem Schreiben an die Haupt- und Ehrenamtlichen im Bistum Münster formuliert, was viele engagierte Christinnen und Christen nur noch als übermächtige Institution, als erdrückende Struktur, als Amtskirche bezeichnen, wahrnehmen und erfahren, muss sich verändern. Viele von denen, die in der Kirche Verantwortung tragen, müssen ihre Haltung und ihr Verhalten ändern. Was das aus meiner Sicht für den Umgang mit dem Thema des sexuellen Missbrauchs heißt, habe ich gerade erläutert.

Insgesamt müssen wir als kirchliche Verantwortungsträger – und da schließe ich mich selbst ausdrücklich ein –  Kirche wie folgt leben: zugewandt, veränderungsbereit, lebendig, vielfältig, offen, dialogorientiert, im Dienst an den Menschen stehend, Gewalt, Unrecht und sexuellen Missbrauch bekämpfend. So verkünden wir die frohe und befreiende Botschaft Jesu Christi glaubhafter und überzeugender – in Wort und Tat.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und danke Ihnen, den Journalistinnen und Journalisten hier im Raum – auch, wenn das vielleicht paradox klingen mag und ich mich damit nicht mit Ihnen gemein machen möchte –, für Ihre zurecht oft kritische Berichterstattung. Ohne die Betroffenen selbst und ohne den kritischen Blick der Medien auf das, was wir als kirchliche Verantwortungsträger tun und unterlassen, wären wir bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs längst nicht da, wo wir heute stehen. Zugleich ist aus meiner Sicht noch viel zu tun.